Stolze sieben Jahre war es mittlerweile her, dass mein Freund und ich das Traumzeit-Festival in Duisburg besucht hatten. Ich erinnerte mich gut an das tolle Ambiente im Landschaftspark Nord, wo die Bands vor der Kulisse eines verfallenden (oder eher im Verfall erhaltenen) Stahlwerks auftraten. Allerdings erinnerte ich mich auch gut, dass wir unseren Entschluss, auf Übernachtungen zu verzichten und an drei Tagen hintereinander ins Ruhrgebiet zu pendeln bereut hatten - auch "nur" eineinhalb Stunden einfache Fahrt sind dreimal hintereinander sehr viel, und man kann auf der Strecke auch einige Staus einplanen.
Als mein Freund letztes Jahr den Wunsch äußerte, das Festival 2025 wieder zu besuchen, besorgte ich also nicht nur die Karten als Weihnachtsgeschenk, sondern sah mich auch gleich nach einem Hotel um. Das sollte eine bequemere Festival-Variante ermöglichen. Nach den ersten Bestätigungen - The Notwist, Jimmy Eat World - blieb das Festival letztlich etwas arm an (für uns) großen Namen, aber wie gesagt: Das Ambiente zählte ja auch. Etwas mulmig wurde uns allerdings, als für das besagte Wochenende Höchsttemperaturen vorausgesagt wurden. Schon beim Maifeld Derby vor einigen Wochen war es furchtbar heiß gewesen, da hätten wir doch eigentlich moderatere Temperaturen verdient gehabt.
Das Traumzeit bietet mittlerweile, wie andere Festivals, auch ein Rahmenprogramm an, insbesondere die Camper konnten an Yogasessions oder auch Hochofenführungen teilnehmen - alles erforderte allerdings eine separate kostenpflichtige Anmeldung. Das musikalische Programm begann am Freitag erst gegen 18 Uhr, so dass wir recht gemütlich anreisten und zunächst zum Hotel fuhren.
Weniger gemütlich wurde es allerdings am Einlass: Irgendetwas war hier ziemlich falsch kalkuliert worden, oder vielleicht war Personal kurzfristig ausgefallen? Während das Parken noch problemlos geklappt hatte, fanden wir uns in einer mehrere hundert Meter langen Schlange wieder, an deren Anfang insgesamt vier Personen Tickets gegen Einlassbändchen umtauschten. Wir brauchten für den Prozess um die 45 Minuten, und als wir es endlich geschafft hatten, standen hinter uns noch mehr Personen an.
Es ging dann schnurstracks zum ersten Programmpunkt, dem Knappenchor Bergwerk Consolidation. Auch bei unserem ersten Traumzeit-Besuch war das Festival durch einen solchen Knappenchor eröffnet worden, damals den Knappenchor Rheinland. Und, oh Schreck: Die Gießhalle war bereits annähernd voll, wir sorgten uns kurz, ob wir überhaupt hineingelassen werden würden, während drinnen der Chor bereits auf der Bühne stand, auch aus der Ferne gut erkennbar an der traditionellen Kleidung mit Bergkittel und Schachthut mit Federbusch. Auf der Bühne befand sich auch eine Schachtglocke.
Letztlich schafften wir es aber ganz hinten auf die Zuschauertribüne. Der Chorleiter erklärte gut gelaunt, dass man aus Gelsenkirchen Schalke stamme (was im Publikum nicht nur Begeisterung hervorrief) und dass der Chor seit 1917 bestehe, Gründungsmitglieder seien aber nicht mehr dabei. Bereits letztes Jahr sei man hier aufgetreten und habe die Tradition von einem anderen Chor übernommen.
Die nun folgenden altüberlieferten Bergmannslieder schienen für meine ungeübten Ohren alle "Glückauf" zu heißen, ein Blick auf die Songliste eines ähnlichen Chors offenbart, dass es tatsächlich die Lieder "Glückauf, wie tut sich das Herze uns auf", "Glückauf Ihr Bergleut, Jung und Alt" und "Glückauf ist unser Bergmannsruf" gibt, sowie einige mehr.
Den traditionellen Abschluss bildete das "Steigerlied", bei dem alle mitsingen durften und sollten, inklusive einer vorab angekündigten Extrastrophe mit dem Text "Wir Bergleut sein’s kreuzbrave Leut, denn wir tragen das Leder vor dem Arsch bei der Nacht und saufen Schnaps". Anschließend wurden auf der Bühne tatsächlich Schnäpse gereicht und getrunken, hinterher bekamen wir noch eine Zugabe - wieder etwas mit "Glückauf".
Ich finde die Idee mit dem Bergmannschor, noch dazu an einem Ort, der auf seine Art auch an die industriellen Traditionen des Ruhrgebiets erinnern möchte, durchaus charmant - gerade auch, wenn man im gegenwärtigen Duisburg (das wir zugegebenermaßen aber auch nicht gründlich angesehen haben) sonst kaum daran erinnert wird.
Weiter ging es bei uns mit einer kurzen Essenspause. Dieses Jahr gab es erstmalig ein eigenes Bezahlsystem, für das man zunächst Geld auf einen Chip am Festivalbändchen laden musste. Das funktionierte gut, außer, dass ich bei fast allen Bezahlvorgängen erst einmal gewohnheitsmäßig meine Apple Watch an die Lesegeräte hielt...
Gestärkt sahen wir anschließend unseren ersten Act auf der uns neuen Hochofenbühne (2018 hatte es noch eine weitere Hallenbühne gegeben, mittlerweile sind die beiden Bühnen außerhalb der Gießhalle draußen). Hier traten nun Schrottgrenze auf. Die deutschsprachige Band aus Hamburg (ganz ursprünglich Peine, wie wir während des Auftritts erfuhren) existiert bereits seit 1994, ohne, dass sich unsere Wege bislang gekreuzt hatten. Es gibt in der aktuellen Formation auch nur noch zwei Gründungsmitglieder, Sängerin Saskia Tsitsigias und den Gitarristen Timo Sauer. 2010 hatte man sich vorübergehend komplett aufgelöst und hat erst 2017 wieder Musik veröffentlicht.
Die Indie-Rockband hat in ihren Texten häufig einen Fokus auf feministische Themen und den Ausbruch aus traditionellen Geschlechterrollen, wir hörten Titel wie "Life is queer", "Dysphorie" und "Das Universum ist nicht binär", das Letztgenannte wurde Julia Klöckner gewidmet, die in ihrer kurzen Zeit als Bundestagspräsidentin bereits mehrere Queer-feindliche Entscheidungen getroffen hat.
Band wie Publikum schienen den Auftritt sehr zu genießen, mein Freund hatte sich vor allem auf zwei Songs des Albums "Château Schrottgrenze" von 2007 gefreut und bekam erst das eine und dann auch das andere zu hören ("Am gleichen Meer" und "Fotolabor"). Danach mussten wir allerdings los und uns Stehplätze beim nächsten Auftritt sichern, so bekamen wir das Ende nicht mehr mit.
Setliste:
Wir wechselten zur Cowperbühne, der größten des Festivals. Hier sollte als nächstes Somebody's Child auftreten, eine Band rund um den irischen Musiker Cian Godfrey. Die Bühne wurde von eine Palästina-Fahne geziert - was uns besonders auffiel, weil wir kürzlich erfahren hatten, dass die Band The Murder Capital vor einiger Zeit einen Auftritt im Kölner Gebäude 9 abgesagt hatte, weil dieses den Künstlern jede Art von Fahne auf der Bühne untersagt (was ich durchaus nachvollziehen kann) - auch hier war der Streitpunkt eine Palästina-Fahne gewesen. In Duisburg ist man hier offenbar aufgeschlossener.
Godfrey teilt sich einen Produzenten mit The National, seine Musik klingt nach diesen, aber mehr noch nach Sam Fender und Gang of Youths. Dem Publikum gefiel der Indierock gut, Somebody's Child konnten hier auf das Songmaterial von zwei Alben zurückgreifen. Zu "Jungle" bildete sich sogar ein kleiner Moshpit vor der Bühne. Zum bekanntesten Song "We Could Start a War" lobte der Sänger das deutsche Publikum, mit dem er stets positive Erfahrungen gemacht habe, es werde immer gut zugehört. Dies war im Übrigen sein erster Auftritt bei einem deutschen Festival.
Setliste:
Im Anschluss hatten wir es gleich wieder eilig und gingen den Weg zurück zur Hochofenbühne, wo nun der Auftritt von Sarah Julia anstand. Die Band rund um das Schwesternpaar Nauta hatten wir bereits vor einigen Monaten als Support Act von Paris Paloma in Köln gesehen. Das Setup war dieses Mal ein anderes - damals waren alle Musikerinnen in weiß gekleidet gewesen und hatten ein wenig gewirkt, als wären sie in Nachthemden angetreten. Dieses Mal trug man normale Kleidung. Auch die Atmosphäre einer Festivalbühne ist natürlich deutlich anders als die vor dem zu 95% sehr jungen und weiblichen Publikum von Paris Paloma. Vielleicht deshalb hatte man dieses Mal keine Harfe, dafür aber einen männlichen Schlagzeuger dabei.
Sarah Julia haben nach wie vor noch kein Album veröffentlicht, aber immerhin mittlerweile eine EP. Die vier Frauen vorne auf der Bühne befanden sich in einem stetigen Instrumentewechsel zwischen diversen Gitarren, Bässen, einer Mandoline und einem Banjo. Eine der beiden Schwestern spielte die meiste Zeit Keyboard.
Zum zweiten Lied "Game of Pretend" gab es einen Kabel-Unfall, der einen ziemlichen Krach verursachte und alle ein wenig erschreckte - er ließ sich aber recht schnell beheben. Wie beim letzten Mal bekamen wir zu einigen Songs Erklärungen, etwa, dass sich "Daughters" um die Sorge dreht, selbst Töchter zu haben, die denselben alltäglichen Ängsten von Frauen hinsichtlich Gewalt ausgesetzt wären.
Sowohl "Juliette" als auch "Conversations" wurden uns als neue Lieder vorgestellt. Der Auftritt kam sehr gut an, harmonierte aber nicht furchtbar gut mit dem sonst eher lauten Festival-Kontext. Vielleicht hatten sie deshalb auch Teppiche mitgebracht und auf der Bühne ausgelegt. Etwas wehmütig dachten wir in diesem Zusammenhang an in die aktuell nicht für Festivalauftritte genutzte, bestuhlte Gebläsehalle.
Nun machten wir einen sehr kurzen Ausflug in die Gießhalle, wo gerade der Auftritt von Lambert stattfand - ebenfalls einem "alten Bekannten", den wir vor elf Jahren einmal beim Maifeld Derby gesehen hatten. Damals war der Musiker allein im Parcours d'Amour aufgetreten und hatte Klavier gespielt. Im Gedächtnis war uns vor allem die kuriose Maske geblieben, die er getragen und den ganzen Auftritt lang anbehalten hatte.
Die Stippvisite zeigte: Bezüglich der Maske (es handelt sich wohl um einen Stier) war alles gleich geblieben, allerdings war Lambert heute nicht allein da, sondern wurde am Kontrabass und Schlagzeug begleitet. Was wir hörten, wurde schnell ziemlich jazzig - wir zogen weiter.
Als Nächstes sollte nämlich der Tages-Headliner auftreten, Jimmy Eat World. Ähnlich wie Schrottgrenze ist diese Band in meinem bisherigen Leben komplett an mit vorbeigegangen, dabei existiert sie seit 1993, hat zehn Alben veröffentlicht und durchaus kommerziellen Erfolg erreicht. Mein Freund konnte beim kurzen Testhören gar nicht glauben, dass ich selbst die Hits nicht kannte - nur den größten, "The Middle", den ich allerdings zögernd Green Day zugeordnet hätte.
Anderen ging es da zum Glück für die Band anders, ich hatte tagsüber bereits Band-Shirts gesehen, und vor der nun erneut aufgesuchten Cowperbühne war es schon ordentlich voll geworden.
Der Auftritt begann - wie eigentlich alles beim Traumzeit-Festival - pünktlich. Für den Liveauftritt hatte sich das Quartett aus Mesa, Arizona (den Herkunftsort nannten sie gerne und häufig) noch einen zusätzlichen Keyboarder mitgebracht, Robin Vining.
Wie bei Festivals üblich konzentrierte man sich in der Setliste auf die bekannten Hits, 11 der insgesamt 17 gespielten Songs kamen von den Alben "Clarity", "Bleed American" und "Futures" und damit aus der Ära zwischen 1999 und 2006. Bereits beim dritten Lied "Sweetness" bildete sich vor der Bühne ein Moshpit. Im Anschluss nahm die Begeisterung im Publikum ein wenig ab, um dann im letzten Drittel, in dem sich besonders viele ältere Songs aneinander reihten, ihren Höhepunkt zu finden. Den sogar mir bekannten Hit sparte man sich fürs Ende auf, eine Zugabe bekamen wir nicht.
Die Band erwies sich, abgesehen von Vorstellungen der Mitglieder, als relativ wortkarg, Sänger Jim Adkins kommentierte allerdings irgendwann seine Aussicht - hinter dem Publikum erhoben sich diverse zerfallende Industrieanlagen - hier sähe es genauso aus wie in der "Origin Story" eines Superbösewichts, der hier bei einem Experiment in einen giftigen Tank fallen würde und damit seine Schurkenkarriere startet. Zu "Blister" wurde Gitarrist Tom Linton befragt, wie ihm die Show bislang gefalle, und er behauptete, es sei eventuell die beste aller Zeiten.
Setliste:
Mittlerweile war es viertel nach 12, aber wir hatten vor dem Hotelbett noch einen letzten Termin, der uns zurück in die Gießhalle führte. Ein wenig hatten wir Sorge, nach dem übervollen Auftritt des Knappenchors überhaupt hineinzukommen - tatsächlich beobachteten wir an einem der anderen Festivaltage, dass alle, die die Halle betraten, gezählt wurden, es gab also definitiv ein Limit. Darüber hinaus wurde die Halle auch nach jedem Konzert komplett geräumt, so dass niemand einfach für alle Auftritte bleiben konnte. In diesem Fall gab es aber keine Probleme: Trotz Headliner-Position war der Slot von Kat Frankie's B O D I E S für viele wohl einfach zu spät angesetzt. Die Halle füllte sich durchaus, aber es gab keinerlei Schwierigkeiten, dabei, sogar Stehplätze nahe an der Bühne zu ergattern.
Kat Frankie war mir vorab als Musikerin ein Begriff, live hatten wir sie vor vielen Jahren schon einmal als Bandmitglied von Olli Schulz auf einer Festivalbühne gesehen. Die Geschichte des Projektes B O D I E S geht auf das Elbjazz Festival 2018 zurück, für das Frankie einen Teil ihres Akustiksets experimentell als A Capella-Auftritt mit fünf Sängerinnen gestaltete. 2020 fand das erste reguläre Konzert der lose zusammengestellten Gruppe statt, die mittlerweile zu siebt auftritt - immer a Capella und ohne Instrumente. Allerdings finden die Konzerte nicht allzu häufig statt, meistens in Konzertsälen. Der Freitagabend stellte die Festival-Premiere des innovativen Acts dar.
Zunächst kamen alle Frauen - alle mit Headset-Mikrophonen, die Bewegungsfreiheit ermöglichten, auf die Bühne und stellten sich in einer Reihe auf. Auf dem Instagram-Profil des Projekts kann man sehen, dass die Sängerinnen jeweils in abgestimmten Outfits auftreten, das heutige Motto lautete offenbar "Erdtöne mit schwarz". In manchen Zusammenstellungen war auch Tara Nome Doyle, die wir erst Anfang des Monats beim Maifeld Derby gesehen hatten, dabei gewesen, sie war heute aber nicht mit von der Partie. Das erste Lied begann als Wechselgesang, zu dem Frankie irgendwann die Hauptstimme übernahm.
Das Set erwies sich als durchaus theatralisch: Auf der Bühne befanden sich zwei große Holzelemente, die immer wieder verschoben wurden und die sich vielfältig als Podeste, Sitzgelegenheiten oder eine Art Schiff benutzen ließen. Die Sängerinnen selbst folgten einer genauen Choreographie und sangen mal nebeneinander, mal im Kreis, mal als zwei Gruppen, die sich gegenüber standen, mit und ohne Einbezug der Holzelemente. Auch ohne Einsatz von Instrumenten gab es den Percussion - durch Schnipsen oder koordiniertes Aufstampfen, teils wurde auch mit einem Extra-Mikrophon ein Beat erzeugt.
Nur Kat Frankie sprach gelegentlich zwischen den Liedern in einem Mischmasch aus Deutsch und Englisch (sie ist eine in Berlin lebende Australierin) und erklärte beispielsweise, dass "A Body of Work" ein Lied darüber sei, wie furchtbar es sei, einen Job zu haben. "Carmen" wurde als das einzige Liebeslied angekündigt - Frankie verteilte dazu einige Blumen ins Publikum, doch mit "Bad Behaviour" folgte im direkten Anschluss auch ein Trennungslied. "Birds of the Wet Lands" wurde für den Soundtrack der Serie Marzahn mon Amour geschrieben.
Die Lieder in Kombination mit den Choreographien erzeugten in der gespannt ruhigen Halle eine ganz besondere Atmosphäre, zwischen den einzelnen Liedern gab es jeweils begeisterten Applaus. Dieser war nach dem eigentlichen Ende des Sets so tosend, dass wir noch eine kurze Zugabe bekamen. Ein wirklich sehr besonderes und gleichzeitig unterhaltsames Konzert.
Setliste:
Gegen halb 2 fielen wir erschöpft in unser Hotelbett und freuten uns darüber, dass wir uns daran erinnert hatten, wie anstrengend die Hin-und Herfahrerei beim ersten Traumzeit-Besuch gewesen war. Zumal wir bei einer noch zu absolvierenden Rückfahrt auf den letzten Auftritt vielleicht verzichtet hätten - dabei war das der beste des Tages.
0 Kommentare