Neulich auf dem Balkon: Nick Cave solo im Baden-Badener Festspielhaus


Für dieses Jahr hatte ich ganz sicher nicht auf dem Zettel, dass ich sage und schreibe dreimal Baden-Baden besuchen würde (und damit dreimal so häufig wie in meinem bisherigen Leben). Zunächst hatte uns die Yoshitomo Nara-Ausstellung gleich zweimal in den Schwarzwald gelockt, nun war es die Solotour von Nick Cave.

Letztes Jahr hatten wir den Musiker im Rahmen seiner Wild God-Tour mit den Bad Seeds in Prag gesehen. Diese Tournee dauert noch an, als nächstes folgt 2026 ein Besuch der Band in Australien und Neuseeland. Parallel hat sich Cave offensichtlich mit seinem Tour-Bassisten Colin Greenwood (der normalerweise ein Mitglied von Radiohead ist) angefreundet und spielt mal eben zwischendurch mit diesem eine Solotour.



Als diese neuen Termine angekündigt wurden, sah es so aus, als würde es keinen passenden für uns geben. Gerade Caves Besuch in der Hamburger Elbphilharmonie hätte uns interessiert, aber wir besaßen für denselben Termin im Juni bereits Tickets fürs Traumzeit-Festival. Ich hatte mit dem Thema bereits abgeschlossen, als mein Freund mich mit Tickets für den September überraschte: Cave besuchte Deutschland gleich zweimal, der Herbsttermin passte für uns - und das Festspielhaus sah zumindest von außen, so viel hatten wir bei den Baden-Baden-Besuchen früher im Jahr mitbekommen, angemessen prunkvoll aus.

Das Konzert war schnell nach seiner Ankündigung komplett ausverkauft gewesen - erst kurz vor der Abreise nach Baden-Baden fiel uns auf, dass es am Tag vor unserem Konzert sogar einen weiteren Termin am selben Ort gegeben hatte. Unser eigenes Konzert fiel auf einen Freitagabend - nicht ganz unproblematisch, da ich den Tag nicht frei nehmen konnte und die Fahrt von unsererm Zuhause aus unter besten Bedingungen etwa 2,5 Stunden dauerte. 



Letztlich schafften wir einen Aufbruch um halb 5, gerieten aber rund um Karlsruhe in einen zähen Stau, durch den wir bei Einlassbeginn um 19 Uhr noch auf der Autobahn standen. Immerhin konnten wir trotz der leicht verspäteten Ankunft noch einen Parkplatz im Parkhaus des Festspielhauses ergattern, so dass es vor Ort keine weiteren Verzögerungen mehr gab. 

Das Festspielhaus ist das größte Opernhaus Deutschlands und basiert als Gebäude auf dem ehemaligen Bahnhof Baden-Badens, der mit einem Neubau ergänzt wurde. Was von außen nach 19. Jahrhundert aussieht, ist von innen also modern. Unsere Tickets für den Bereich "Balkon links" führten uns in einen Zuschauerbereich, der einerseits recht weit von der Bühne entfernt lag - andererseits konnte man sehen, dass über uns und seitlich von uns noch mehrere Etagen kamen. Der Saal fasst insgesamt 2.500 Personen.



Auf der Bühne gab es keinerlei Dekorationen oder Banner, nur den Flügel, an dem Cave sitzen sollte, und den Verstärker für Colin Greenwoods Bass. Letztgenannter betrat die Bühne als erster, wurde mit Applaus begrüßt und klatschte gleich einmal zurück - oder wohl eher für Cave, der kurz nach auf der Bühne erschien.

Wir waren uns im Vorfeld nicht ganz sicher gewesen, wie viel Cave im Rahmen des Abends erzählen würde. Vor fünf Jahren gab es die "Conversations with Nick Cave"-Tournee, die gezielt als eine Art Frage-und-Antwort-Session mit dem Publikum angelegt war - wir hatten den Termin in Wiesbaden wahrgenommen, auch Baden-Baden hatte Cave damals besucht. Mit ganz so viel Kommunikation rechneten wir an diesem Abend nicht.



Nick Cave stellte, als er die Bühne unter großem Jubel betrat, zunächst Greenwood vor, indem er sagte, er habe diesen von Radiohead gestohlen, die Band werde ihn aber nun zurückstehlen und mit ihm auf Tour gehen - für eine Weile. Offenbar gehen Cave und Greenwood von einer weiteren zukünftigen Zusammenarbeit aus.

Das Duo spielte nun zunächst "Girl in Amber"; "Higgs Boson Blues" kündigte Cave anschließend an, indem er sagte, der Song sei wirklich extrem lang, man könne wahlweise auch einfach eine rauchen gehen und in zehn Minuten zurückkehren - die anderen Konzertbesucher könnten einem dann eventuell erklären, worum es in dem Text ginge (Cave selbst weiß es offenbar nicht). 

Je nach Lied unterschieden sich die Versionen am Flügel natürlich mehr oder weniger deutlich von denen, die Cave mit seiner großen Band darbietet, die Lieder funktionierten aber generell auch in dieser Form sehr gut. Cave erklärte an anderer Stelle, gerade seine "andere" Tour habe ihn dazu inspiriert, nun allein mit Greenwood loszuziehen und die Musik auf ihre Essenz zu reduzieren.



Zu vielen der Lieder bekamen wir Begleitinformationen - das nun folgende "Jesus of the Moon" handelt etwa von einem Mann, der froh ist, seine Partnerin verlassen zu haben, was er aber später bereuen wird.  Die Ankündigung von "O Children" hatten wir so ähnlich schon einmal bei einem anderen Konzert gehört; Cave erzählte, dass die Inspiration zu dem Lied gekommen sei, als er in Brighton lebte und dort seine Kinder auf einem Spielplatz beobachtete, wobei ihn eine Welle von Pessimismus gegenüber der Welt überkam, der sie ausgesetzt sein würden. Bei der Nennung von Brighton jubelte ein Mitglied des ohnehin sehr reaktionsfreudigen Publikums. Cave machte sich ein wenig über die Zwischenruferin lustig, widmete ihr aber den Song.

Zu "Galleon Ship" erfuhren wir, dass Cave es für seine Frau Suzie geschrieben hat, und das mit dem Plan, ihr einen Song zu widmen - was wohl nicht sein reguläres Vorgehen beim Songschreiben ist. Mit dem Ergebnis waren aber offenkundig dennoch alle zufrieden, denn er merkte an, dass "Galleon Ship" eine "Hymn" (also ein Kirchenlied) in seinem Haushalt sei.



Das auch in seiner regulären Version sehr ruhige (und sehr traurige) "I need you", dessen Text mit der sich wiederholenden Zeile "just breathe" endet, blendete Cave quasi natürlich aus, indem er bei jeder Wiederholung leiser wurde. Parallel wurde der Lichtkreis, in dem er sich befand, auch immer kleiner, was einen schönen Effekt ergab.

Mit den Liedern und Erklärungen schritt der Abend schnell voran. Greenwood spielte ausschließlich Bass - im Vorfeld hatten wir uns gefragt, ob er vielleicht auch mitsingen würde, da Cave ja bei anderen Konzerten gleich einen kleinen Gospelchor dabei hat und vielleicht über gesangliche Unterstützung froh gewesen wäre. Tatsächlich war aber selbst Greenwoods Bassspiel eher dezent und fiel musikalisch ehrlich gesagt kaum auf. Immerhin schien er aber viel Spaß dabei zu haben.



Zu "Joy" erklärte Cave, es sei leicht gewesen, dieses Lied zu schreiben - auch das ist wohl eine Ausnahme bei ihm. Vor "Papa Won't Leave You, Henry" begann er mit der Erklärung, er habe dieses Lied in Berlin geschrieben - was Jubel im deutschen Publikum auslöste, worauf Cave sich lachend selbst verbesserte: Er habe sich vertan, er habe damals in Brasilien gelebt. Das Lied sei in seiner Schmissigkeit das einzige gewesen, mit dem er damals seinen kleinen Sohn in den Schlaf habe singen können. Textlich handele es sich um "early Nick Cave" und sei dementsprechend unfassbar brutal und sicher nicht Kinder-geeignet. 

Mein Freund und ich sahen einander überrascht an - der Song und das Album "Henry's Dream" stammen von 1992, was zugegebenermaßen über 30 Jahre her ist. Aber auch damals hatte Cave den Ruf eines ehemaligen Punkmusikers, der mittlerweile auch schöne Balladen schrieb, weshalb uns diese Einordnung ein wenig überraschte - selbst, wenn Caves Karriere danach noch etliche Wendungen genommen hat. Nun ja, "Henry's Dream"  war Caves sechstes Album, mittlerweile gibt es 18, also liegt es aus heutiger Sicht tatsächlich im frühesten Drittel seines Gesamtwerkes. Der Faktor "Schmissigkeit" funktionierte auch in der Piano-Version.



Zu "Balcony Man" hatte sich Cave etwas Lustiges ausgedacht, das so wohl an jedem Abend der Tour stattfindet: Jedes Mal, wenn das Wort "Balcony" falle, sollten alle, die sich auf einem solchen befanden (das waren quasi alle Besucher bis auf die direkt vor der Bühne) komplett ausflippen, jubeln und winken. Für die Besucher ohne Balkonplätze galt "shut the fuck up". Der Aufforderung kamen alle begeistert nach. Cave machte die Interaktion so viel Spaß, dass er auch viel später nochmals "Balcony!" rief - das Publikum machte natürlich begeistert mit.

Direkt im Anschluss erzählte Cave zum einen, dass er "The Mercy Seat" tatsächlich in Berlin geschrieben habe, zum anderen habe er nun eine Aufgabe für die vorher unbeschäftigten Konzertbesucher im Parkett - und setzte direkt nach: "shut the fuck up".



Zwischen die Reihe von sehr alten Liedern, die nun folgte, baute er auch eine Coverversion von Leonard Cohens "Avalanche" ein und erzählte davon, wie er dessen Album "Songs of Love and Hate" einst das erste Mal gehört habe. Als anschließend ein Besucher den Saal verließ, witzelte Cave, es handele sich sicher um einen mit dem Cover unzufriedenen Cohen-Fan.

Nick Cave führt seit Jahren die Website "The Red Hand Files", auf der ihn Fans alles Mögliche fragen dürfen - und deren Inhalte die Inspiration für die "Conversations with..."-Konzerte waren. Auf diesem Weg wurde er kürzlich zum Lied "Skeleton Tree" angesprochen und dachte zunächst, dass Song und Album aus einer so dunklen Zeit stammten, dass er sie nicht mehr ertragen könne - habe aber festgestellt, dass sich die dunklen Wolken verzogen hätten und er das Lied nun wieder spielen könne - was er auch tat.

Wir wurden ermutigt, beim letzten Lied des Hauptteils, "Push the Sky Away", mitzusingen, was auch viele auf eine schöne Weise taten. Cave schüttelte zum "Abschied" einige Hände in der ersten Reihe und signierte Gegenstände, die ihm aus dem Publikum angereicht wurden.



Natürlich folgte aber noch ein Zugabenteil. Die erste Zugabe war dann "Tupelo" von 1985 - ein Klassiker in Caves Setlisten, der am Klavier nicht ganz so sehr ausuferte, wie das bei regulären Konzerten Standard ist. Zu Cave am Flügel gesellte sich ein Junge, der vorher vorne im Publikum gesessen hatte - Cave hatte ihm am Ende des Hauptteils, als er mit der ersten Reihe interagiert hatte, die Hand geschüttelt. Cave ließ ihn nun neben sich Platz nehmen und forderte ihn auf, mit am Piano herumzuklimpern.

Während Cave vorher mit einem Stapel Notenblätter gearbeitet hatte, bei denen er die benutzten jeweils hinter sich warf, wählte er die Zugaben nun offenbar spontan aus einem Zettelhaufen aus, der auf dem Flügel lag. Als Greenwood offensichtlich eine Frage zur konkreten Songauswahl hatte, reagierte Cave scherzhaft damit, diese Information sei auf einer "need to know basis", gehe ihn also nichts an.



Anschließend kündigte Cave ein noch älteres Lied an: "Shivers" wurde 1979 von Cave mit seiner alten Band The Boys Next Door veröffentlicht, aber bereits vorher von seinem Freund Rowland Howard für dessen vorherige Band Young Charlatans geschrieben - im Alter von 16 Jahren. Dem verstorbenen Freund wurde das Lied auch gewidmet. Nach "(Are You) The One That I've Been Waiting For?" hörten wir noch eine weitere Coverversion, "Cosmic Dancer" von T-Rex, das Cave als Lied "von, für und über" Marc Bolan ankündigte. Das engültige Ende des Auftritts bildete die Ballade "Into My Arms", vor der Colin Greenwood schon einmal die Bühne verließ.

Angesichts der Größe des Saals und der Entfernung der Bühne zögere ich, den Konzertabend als "intim" zu bezeichnen, aber die Musik und die Lieder hallten lange nach - es war ein sehr schönes Erlebnis.



Setliste:

Girl in Amber
Higgs Boson Blues
Jesus of the Moon
O Children
Cinnamon Horses
Galleon Ship
I Need You
Waiting for You
Joy
Papa Won't Leave You, Henry
Balcony Man
The Mercy Seat
The Ship Song
Avalanche (Leonard Cohen cover)
The Weeping Song
Skeleton Tree
Jubilee Street
Push the Sky Away

Tupelo
Shivers (Young Charlatans cover)
(Are You) The One That I've Been Waiting For?
Cosmic Dancer (T. Rex cover)
Into My Arms

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