Am zweiten Festivaltag, dem Samstag, erwachten wir recht entspannt im Hotelbett und stellten später im Frühstücksraum fest, dass wir nicht die einzigen Festivalgäste waren, die sich hier eingemietet hatten: Die alten Leute am Nebentisch (wie mein Freund sie scherzhaft nannte, sie waren so alt wie wir und damit quasi Jugendliche) sprachen gut hörbar über den Vorabend und die Vorliebe von Indie-Fans für Ringelshirts und Playmobil-Frisuren.
Wir gingen noch ein bisschen in die Innenstadt und standen dann pünktlich um 16 Uhr wieder im Gebäude 9. Am Nebentisch aufgeschnappte Hypothesen, dass dieser Tag weniger gut besucht sein würde, schienen sich nicht zu bestätigen. Wir atmeten noch einmal tief durch, denn heute würden wir nicht weniger als sechs Bands hintereinander sehen! Der erste Act des Tages war ein englisches Duo, Blueboy.
Ich hatte von der Band ehrlich gesagt noch nie zuvor gehört. Tatsächlich gab es in den letzten Jahren auch wenig Gelegenheit dazu, denn Sängerin Gemma Townley, die sich zur Begrüßung redlich auf Deutsch abmühte, erwähnte im Laufe des Konzerts, dass man seit 20 Jahren nicht mehr aufgetreten sei. Die Band war ursprünglich größer und hat zwischen 1992 und 1998 drei Alben veröffentlicht, 1994 nahm man eine John Peel Session auf. 2020 hat Gründungsmitglied Paul Stewart einige der alten Songs als akustische Versionen auf Youtube veröffentlicht, was sicherlich auch die Grundlage dieses Konzerts bildete, wenn auch nicht die alleinige: Zu "Sea Horses" wurde erwähnt, man habe es zuvor noch nie akustisch vorgetragen.
Offenbar sind Blueboy aber nicht nur fürs Cologne Popfest wieder aus der Versenkung aufgetaucht: Demnächst folgt ein weiterer Auftritt in London mit der ganzen Band, den Gemma zunächst ankündigte, um dann, als jemand aus dem Publikum rief, er sei ausverkauft, zu versichern, das aktuelle Konzert sei ohnehin das relevantere.
Grundsätzlich wäre es interessant, die Songs auch mal mit ganzer Band zu hören - zu zweit wirkten sie ein wenig arg ruhig und hätten von mehr Bandbegleitung sicher profitiert. Ich weiß aber, dass sich mit dem Auftritt der Band von Sarah Records für einige der Organisatoren ein großer Traum erfüllte.
Setliste:
Too good to be true
Toulouse
Clearer
Always There
Meet Johnny Rave
Sea Horses
So Catch Her
Clear Skies
Air France
The Joy of Living
Nach wieder einmal kurzer Umbaupause waren nun Hadda Be am Start, eine weitere Band aus England. Die diesjähriges Ausgabe des Cologne Popfests war ja eigentlich bereits für 2021 geplant gewesen, und das Booking war damals noch für die Vorgängerband Foundlings erfolgt. Sängerin Amber teilte ihre Freude darüber, dass der Auftritt nach all den Jahren nun doch stattfand.
Man spielte Lieder vom Debütalbum "Another Life", aber auch das neue Lied "High Noon" und eine Coverversion, "Right Down The Line" von Gerry Rafferty, für das man sich einen Gaststar gesichert hatte: Beth von Jetstream Pony (man kennt sich vielleicht aus Brighton) kam mit auf die Bühne und sang, bewaffnet mit einem Zettel für eventuelle Textlücken, mit. Dies sollte die einzige Bühnen-Kooperation im Rahmen des Festivals bleiben, allerdings erwähnte die Sängerin Amber, dass Jake Shillingford von My Life Story ihr Tutor am Music College gewesen sei - es taten sich also zumindest weitere Verflechtungen auf.
Hadda Bes Musik ist lauter, schneller US-Indie Rock, der an Künstler aus den 1990er Jahren denken lässt, Nirvanas Musik scheint ein besonderes Vorbild zu sein. Mit Musik aus den USA sollte es im Anschluss auch musikalisch weitergehen.
Setliste:
Und schon stand die nächste Band auf der Bühne: Pale Lights, ein Quintett aus New York. Den vorderen Bereich der Bühne teilten sich Phil Sutton an der Gitarre, der auch am meisten sprach, und Lisa Goldstein am Keyboard, die anderen drei Musiker hielten sich im Hintergrund (Pale Lights sind normalerweise auch ein Duo).
Ungewöhnlich waren die Setlisten-Methoden der beiden: Während Phil ein Tablet hatte, hantierte Lisa mit kleinen Zetteln, die sie für jeden Song neu zusammenklemmte und auch stets Phil zeigte. Wie die anderen Bandmitglieder informiert wurden, welcher Song nun an der Reihe war, bliebt für uns ein Geheimnis - aber es funktionierte offenkundig.
Mir erschien die Musik stilistisch in Richtung Country and Western angesiedelt zu sein, die Musiker selbst nennen als Referenzen aber unter anderem Lloyd Cole, The Go-Betweens und die Bands des Creation-Labels.
Phil kündigte lange an, er werde seine Lederjacke demnächst ausziehen und sei keineswegs ein Poser, der diese nur aus optischen Gründen trage. Als er sie schließlich ablegte, trug er darunter ein Streifenshirt, was ihn zu der Bemerkung "a stripey shirt at an indie concert, who would have guessed!" motivierte. Was um so lustiger war, weil die Bassistin hinter ihm ein annähernd identisches Shirt trug. An einem Punkt im Set fragte Phil, ob es im Publikum eigentlich Bibliothekare gebe und erklärte, allein auf der Bühne befänden sich zwei.
Die Band dankte ausführlich ihrem Label Kleine Untergrund Schallplatten, das bereits für zwei Abende zuvor einen gemeinsamen Auftritt von Pale Lights mit Jetstream Pony in Augsburg organisiert hatte - was vielleicht auch erklärt, dass deren Sängerin Beth neben dem Label-Chef ganz vorne im Publikum stand und tanzte.
Nach dem Auftritt erklatschte sich das Publikum noch die Zugabe "Jean, Bring the Flowers", zu der Phil erklärte, er habe sie absichtlich zurückgehalten, weil sie sehr schwer zu spielen sei. Trotz dieses Extras (eventuelle Spielfehler fielen uns zumindest nicht auf) war dieses Konzert etwas kürzer als das veranschlagte Zeitfenster. Vielleicht war die Band hungrig, zumindest fragte Phil, ob wir denn Hunger hätten, und leitete uns so perfekt in die nun anstehende "Dinner Break" über.
Die Festivalmacher hatten angesichts der etwas tristen Umgebung des Gebäude 9s zwei Fressstände organisiert. Wir hatten die Wahl zwischen Reibekuchen Mamm und "Der gute Heinrich" mit veganem Essen - und entschieden uns für letzteres, weil die Schlange kürzer war.
Eine Stunde später waren nun Jetstream Pony an der Reihe, die Bühne zu betreten. Sängerin Beth, die wir ja bereits von ihrem kurzen Auftritt mit Hadda Be kannten, hat eventuell das, was unser Frühstücksnachbar als Playmobil-Frisur bezeichnen würde, nämlich einen sehr scharfkantigen Bob. Sie hatte offensichtlich großen Gefallen an einem Taucher-Katzenaufsteller aus Pappe gefunden, der die Bühne dekorierte, und hielt diesen beim ersten Song quasi als Bauchrednerkatze vor sich.
Beth selbst ist Aussprache-technisch definitiv Amerikanerin, die Band an sich aber aus Brighton - und der Tour-Schlagzeuger ist Deutscher. Das oder der Auftritt in Augsburg scheint auch Beth der deutschen Sprache näher gebracht zu haben, sie entschuldigte den minimal verspäteten Konzertbeginn nämlich auf Deutsch: "Ich musste Pipi machen."
Musikalisch machen Jetstream Pony schrammeligen Post-Punk und Indie-Pop, wenn Beth nicht mit der Katze hantierte, schlug sie zum eigenen Gesang einen Tamburin. Ein Lied wurde von der Bassistin Kerry Böttcher gesungen. Einmal setzte Beth an, uns zu bitten, Merchandise zu kaufen, erinnerte sich dann aber, dass bereits alles verkauft war. Sie bat darauf den Gitarristen Shaun Charman, daran zu erinnern, dass es ja noch die Popfest-Single gebe - was er dann an sie gerichtet tat - worauf Beth entgegnete, sie wisse das bereits, er solle es dem Publikum sagen.
Viel Spaß hatte die Band (und das Publikum) auch mit einer Plüschmöwe, die einen der Mikrophonständer zierte und einen eigenen kleinen Soundtrack hatte. Für viele Besucher stellten Jetstream Pony sicherlich das Highlight des Festivals dar.
Setliste:
Es folgte der ungewöhnlichste Act des Lineups - hätte irgendjemand in einer Reihe zumeist britischer Indie-Gitarrenbands mit Andreas Dorau gerechnet? Dem mit "Fred vom Jupiter"? Ich auf jeden Fall nicht. Überraschenderweise musste in der Umbaupause erstmalig der Saal geräumt werden, Dorau wollte offensichtlich keine Zuschauer bei seinen Vorbereitungen. Als wir etwa 15 Minuten später wieder eingelassen wurden, schienen die Arbeiten aber noch nicht abgeschlossen zu sein. Dorau, mit 60 Jahren gar nicht mal so viel älter als viele Festivalbesucher, wirkte genervt und eröffnete seinen Auftritt mit den Worten "Ich möchte jetzt anfangen", was den Soundtechniker offensichtlich überraschte, er entgegnete "... mit dem Konzert?" Ohne Begrüßung ging er also vom Soundcheck gleich in den ersten Song über.
Mit ihm auf der Bühne waren ein Mann am Synthesizer, sowie ein Schlagzeuger, ein Großteil der elektronischen Musik kam aber aus diversen Kästchen, während Dorau engagiert dazu tanzte und zwischendurch gelegentlich mit Konzertgästen stritt. Das Lied "Die Schande kommt" etwa widmete er einem Zuschauer weiter vorne, der offensichtlich irgendetwas getan hatte, das Dorau nicht in Ordnung fand.
Mehr und mehr bekam ich jedoch den Eindruck, dass der Musiker gar nicht so schlecht gelaunt war, wie ich zunächst gedacht hatte - die Frotzeleien waren, so erschien es mir zumindest, einfach seine Art von Humor. Zwischendurch wurden auch immer wieder Lieder angefangen, abgebrochen, weil irgendetwas nicht passte, und wieder neu begonnen.
Etwas dramatisch wurde es dann zu "Ich weiß es nicht": Dorau verletzte sich bei irgendeiner Bewegung und konnte plötzlich mit einem Fuß nicht mehr auftreten. Kurz machte man sich Sorgen, dass der Auftritt abgebrochen werden würde. Er ging jedoch weiter, nachdem jemand einen Barhocker besorgt hatte. Zwei Zuschauer ganz vorne vor der Bühne wurden von dem Sänger energisch mit Sonderaufgaben betraut, nämlich Textblätter umzublättern und ihm regelmäßig sein Getränk zu reichen.
Mehrmals wollte er doch wieder aufstehen, sank aber nach dem Versuch doch immer wieder auf den Hocker zurück. So tanzte er eben im Sitzen und meinte einmal "im Sitzen zu spielen kann ich nur empfehlen" was der Schlagzeuger mit "Ich auch" kommentierte und Gelächter erntete. Er setzte nach "Diese Vorlage konnte ich nicht liegenlassen", worauf Dorau wiederum "Das war keine Vorlage, das war ein Monolog" entgegnete.
Zu "Stoned Faces Don't Lie" zündete sich selbiger Schlagzeuger, sicherlich geplant, eine Zigarette an, im Anschluss verkündete Dorau gegenüber seiner Band, das nächste Lied werde er überschlagen - was jemand aus dem Publikum mit einer Unmutsäußerung kommentierte. Als Dorau entgegnete, er wisse doch gar nicht, was ausgelassen werde, behauptete der Zuschauer, er kenne die Setliste aus dem Internet - Dorau vermutete, es könne sich nur um das Darknet handeln und schenkte dem Festivalgast später nach dem Auftritt die eigene Setliste.
Tatsächlich folgte nun mit "Das Telefon sagt du" wohl Doraus bekanntestes Lied abgesehen von "Fred vom Jupiter", danach kam "Girls in love" (ein Top 10-Hit in Frankreich), dessen weiblicher Gesang komplett vom Band kam. Mit "Im September" gönnte uns Dorau sogar eine Zugabe.
Sicherlich passte dieser Auftritt nicht so ganz zu den anderen, aber gerade das machte ihn aus meiner Sicht deutlich unterhaltsamer als ich erwartet hätte. Das ging wohl vielen so, denn die Stimmung war insgesamt sehr gut.
Setliste:
Ich weiss es nicht
Rainy Days in Moscow
Mein Englischer Winter
So ist das nun mal
Im September
Nun war es Zeit für den Tages-Headliner My Life Story. Geständnis: Obwohl ich zu Britpop-Zeiten gerne und viel Musik gehört habe, habe ich die Band um Jake Shillingford in ihrer Hochzeit irgendwie verpasst. Mittlerweile kenne ich aber dennoch diverse Songs, weil mein Freund sie regelmäßig hört. Die Musik geht meist ins Bombastische und Orchestralische, von Wikipedia weiß ich, dass die Zahl der Bandmitglieder eine Zeitlang zweistellig war. Nach langer Ruhepause erweckte Shillingford, der mittlerweile das einzige permanente Mitglied ist, das Projekt 2018 wieder zum Leben und veröffentlichte 2019 ein neues Album. Dieses Jahr ist ein weiteres Album, "Loving You is Killing Me", erschienen.
Shillingford hatte vier jüngere Bandmitglieder dabei, alle trugen Anzüge und setzten sich dadurch deutlich von den anderen Musikern des Festivaltags ab. Die jungen Männer hielten sich im Hintergrund und überließen Shillingford den Platz auf der Bühne, den dieser auch benötigte, denn er entpuppte sich als Rampensau, die uns an andere Briten dieser Kategorie erinnerte: Brett Anderson von Suede oder Paul Smith von Maxïmo Park.
Gleich zu Beginn erklärte Shillingford, dies sei sein erster Auftritt in Deutschland seit 26 Jahren (...und der war bei Rock am Ring). An dieser Stelle sei schon einmal angemerkt, dass eventuell in näherer Zukunft ein noch ungewöhnlicherer Auftrittsort folgen könnte, und das gar nicht einmal so weit entfernt vom Nürburgring...
Zurück zum Konzert: Natürlich hörten wir Songs vom neuen Album, insgesamt vier, und drei vom Vorgänger "World Citizen". Dazwischen waren die älteren Lieder eingeflochten, die im Gebäude 9 die größten Begeisterungsstürme hervorriefen. Durch den Verzicht auf Streicher und ein großes Lineup wirkten auch die alten Lieder rockiger und so etwas an den neuen Sound angepasst.
Viele Highlights, nämlich "It's a Girl Thing", "Strumpet" und "Sparkle", sammelten sich am Ende des Sets. Das Ende des Hauptteils bildete der neue Song "#NoFilter ". Das Publikum griff die Melodie auf und sang immer weiter, was Jake zu dem Kommentar veranlasste, sie sei auch sehr eingängig.
Wir bekamen noch drei Zugaben zu hören, als erstes "You Can't Uneat the Apple" als akustische Version, nur vom Keyboard begleitet. Das darauf folgende "Naked" kündigte Shillingford mit der These an, dass der Song uns Deutschen gefallen müsste, da wir es schließlich liebten, nackt zu sein. Den Abschluss bildete "12 Reasons Why I Love Her" - für viele, darunter auch meinen Freund, der Höhepunkt des ganzen Festivals.
Setliste:
Hinterher wanderten wir noch zum Merchandise und sagten dem Künstler Hallo, in der Hoffnung, unsere Wohnzimmerkonzertpläne tatsächlich demnächst umsetzen zu können. Wie am Vorabend verzichteten wir auf einen Besuch der Indiedisco, machten uns auf eine lange Autofahrt und lagen gegen 2 Uhr erschöpft im Bett. Ein sehr schönes Festival, und eine sehr gute Idee, den Besuchern den Sonntag zur Erholung frei zu geben...
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