Der letzte Tag des Norður Og Niður Festivals war zugleich der längste - kein Ausflug und keine Stadtbesichtigung hielt uns davon ab, das komplette Bandprogramm zu besuchen. Nun ja, wohl nicht da komplette - aber doch sehr viel.
Der Tag begann für uns mit amiina. Das Quartett, das in der Vergangenheit viel mit Sigur Rós zusammen gearbeitet hat, sich allerdings mittlerweile in der Besetzung stark verändert hat, veröffentlichte 2016 den selbst komponierten Soundtrack zu einem Fantômas-Stummfilm, genauer gesagt zu Juve contre Fantômas. Anlass hierfür war das hundertjährige Jubiläum der französischen Filmreihe, zu dem die Episoden restauriert und von unterschiedlichen Künstlern neu musikalisch unterlegt wurden.
Genau das, nämlich sowohl den 30minütigen Film, in dem der böse Fantômas der Polizei immer einen Schritt voraus ist, bekamen wir nun mit einem Live-Soundtrack zu sehen. Vorab erklärte der Schlagzeuger Magnús Trygvason Eliassen in einer sehr langsamen, von vielen "Äh"s gekennzeichneten Rede, das Projekt. Aufgrund meiner Ansagen vor unseren Wohnzimmerkonzerten konnte ich mich gut in ihn hinein versetzen. Mein Freund ist immer froh, dass er nicht an meiner Stelle ist, so ging es an diesem Abend wohl Guðmundur Vignir Karlsson, Maria Huld Markan Sigfúsdóttir und Sólrún Sumarliðadóttir.
Der Film an sich war, nun, alt - im Festivalprogrammheft erklärt Sólrún Sumarliðadóttir mit Recht, dass die Handlung aus heutiger Sicht ein seltsames Tempo hat - manche Szenen scheinen sich um gar nichts zu drehen, in anderen passiert dann sehr viel. Unterhaltsam war der Film aber allemal, und der live gespielte Soundtrack passte absolut perfekt dazu. Ein kleines technisches Problem, durch das sowohl Film als auch Konzert neu gestartet werden mussten, wiederholte sich zum Glück nicht. Glücklicherweise passierte es nach nicht einmal 5 Minuten.
Setliste:
Fantômas
Juve & Fandor
Paris
Café
Simplon Express
Telegram
Entrepôts de Bercy
Crocodile
Lady Beltham
Bourreau Silencieux
l’Homme Noir
Eher im Vorbeigehen gingen wir anschließend zum Liminal Soundbath. Hierbei handelte es sich um einen "flowing stream of sonic warmth" von Jónsi und Alex Somers sowie Paul Corley. In der Programmheft-Beschreibung stand, man bekäme beim Eintritt ein Glas Schnaps (Brennivín), außerdem solle man nach Belieben eine Decke mitbringen.
Als wir eintraten, lief die Performance bereits, der Schnapsausschank war offenbar beendet und es war gar nicht so einfach, sich in dem dunklen Raum zu orientieren, denn tatsächlich saßen und lagen überall Leute. Dazu schien irgendwo Dampf auszutreten, und es roch nach Holzfeuer. An der Decke befand sich eine Art Discokugel, gestaltet von Juan Azulay, die je nach den Entwicklungen der laufenden Musik ihre Farbe und Helligkeit änderte.
Für uns war nicht erkennbar, ob die Musiker überhaupt anwesend waren oder aber die Musik einfach vom Band lief - vermutlich aber ersteres. Ohne Begrüßungsschnaps war es aber schwierig, sich komplett in die Musik-Geruch-Leuchtobjekt-Erfahrung zu versenken, und so blieben wir nicht bis zum Ende.
Draußen im Foyer gab es dann noch mehr Verwunderndes zu sehen: Gerade traten Data Grawlix auf, eine "assembly of moving statues". Am ehesten passt wohl der Begriff "Performancekunst" zum Dargebotenen: Eine Frau im weißen Overall dirigierte zu Musik, die aus ihrem Laptop kam, vier sitzende Personen, die ihrerseits weiße Overalls trugen (die Variante, die man zum Renovieren kaufen kann) und sich zusätzlich Holzstäbchen an die Finger geklebt hatten, mit denen sie nun zur Musik gestikulierten.
Wenn einem das noch nicht abgefahren genug war, konnte man sich aber auch auf die Künstlerin konzentrieren, die direkt daneben saß: Sara Riel zeichnete auf einem Untergrund, der direkt auf einen Bildschirm projiziert wurde, zur Musik - nicht nur zu Data Grawlix, sie hatte hier für den ganzen Festivaltag ihren Platz und ließ ihre Hand frei zur Musik fließen. Die Ergebnisse ähnelten für mich Banausin arg dem, was man produziert, wenn man beim Telefonieren vor sich hin kritzelt. Allerdings muss ich zugeben, dass die Bilder auf Riels Website um einiges besser aussehen als das, was ich beim Festival beobachtete. Riel hat auch bereits Plattencover für múm gestaltet.
Für uns ging es ein weiteres Mal nach "Silfurberg", wo nun Stars of the Lid auftraten. Es handelte sich, was für eine Abwechslung, um Instrumentalmusik, zu der Projektionen gezeigt wurden. Wir fanden keinen Sitzplatz im nun bestuhlten Saal, da wir uns aber in der Harpa mittlerweile gut auskannten, organisierten wir uns schnell Stühle. Die eigentlichen Bandmitglieder, Brian McBride and Adam Wiltzie, trugen Tankstellenoveralls, auf deren Rücken man "Big Ed's Gas Farm" lesen konnte - eine Twin Peaks-Referenz? Beide standen an den Bühnenrändern und bedienten Synthesizer und Gitarren, häufig mit dem Rücken zum Publikum. In der Bühnenmitte befanden sich ein Streichtrio (zwei Geigerinnen und eine Cellistin) und ein Mann, der hauptsächlich Kabel in eine Art Synthesizerschrank zu stecken schien.
Das Ergebnis waren lange andauernde, stetig an- und abschwellende Melodien und Soundlandschaften, die ich persönlich schlicht langweilig fand. Dass der erste Song annähernd 30 Minuten dauerte, machte die Sache für mich auch nicht einfacher. Der Rest des Publikums lauschte andächtig bis gebannt und durch die bunten Projektionen auf drei Viertel der Wände fühlte man sich ein wenig wie in einer Kathedrale, was auch ein sehr guter Konzertort für Stars of the Lid wäre. Ich war dennoch auch nicht traurig, als wir das Set vorzeitig verlassen mussten: Wir hatten nämlich nochmals Karten für Sigur Rós.
Die Idee beim Ticketkauf fürs zweite Konzert war eigentlich gewesen, einmal besonders gute und einmal besonders "günstige" Tickets zu haben. Aufgegangen war das leider nicht, denn wie bereits berichtet hatten wir beim Konzert drei Tage zuvor keineswegs direkt vor der Bühne, sondern auf dem zweiten Rang gesessen. Heute hatten wir Tickets für den dritten Rang, wiederum gegenüber von der Bühne, aber auch noch in der siebten Reihe. Weiter entfernt konnte man kaum von der Band sitzen, dennoch ist der Saal "Eldborg" aber so geplant, dass man auch aus dieser Position die Bühne gut sehen kann. Etwas störend war allerdings unsere Umgebung auf den "billigen Plätzen" - rechts und links von uns saßen Briten, die zwar einerseits begeistert von der Band waren, andererseits aber trotzdem die ganze Zeit redeten und offensichtlich viel von dem Brennivín erhalten hatten.
Nach 127 Konzerten in 19 Monaten in 37 Ländern auf 5 Kontinenten sollte am 30. Dezember in Reykjavik der Schlusspunkt unter die aktuelle Tour gesetzt werden. Im Verlauf der Zeit fanden neben "Óveður" mit "Á" als Opener sowie "Niður" und "Varða" noch drei weitere unveröffentlichte Songs den Weg in die Setliste. Der letztgenannte Song sollte den ersten Teil des Konzertes beschließen, denn erneut gab es eine 20-minütige Unterbrechung. Während Jónsi Birgisson (Gesang, Gitarre) und Orri Páll Dýrason (Schlagzeug) die Bühne im Verlauf des Songs verlassen hatten, ließ Georg Hólm das Lied am Piano langsam ausklingen. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.
Das Set der Band war identisch zu dem drei Tage zuvor, mit denselben Songs und beeindruckenden Video- und Lichtinstallationen. Nur deutlich lauter war es auf den obersten Rängen im Vergleich zu unserem ersten Sigur Rós Abend, vielleicht hatte sich das Trio ein Beispiel an Kevin Shields und Mogwai genommen. Jónsi sprach dieses Mal etwas länger mit dem Publikum, aber leider konnten wir natürlich nichts verstehen. Erneut war der zweite Teil mit "Sæglópur", "Ný Batterí", "Vaka" (auch als "Untitled 1" bekannt) und "Festival", bei dem Jónsi einen Ton für handgestoppte 53 Sekunden hielt, der deutlich stärkere. Am Ende des wirklich letzten Sigur Rós Songs, dem traditionellen Schluss- und Höhepunkt "Popplagið", brachen auch bei den drei Isländern alle Dämme: Jónsi riss die Verstärker um und rannte, die Hände an der Kopf gepresst in Richtung Backstage, Orri zerlegte sein Schlagzeug und beförderte ein Becken per Kung Fu-Tritt in die Ruhepause und Georg zertrümmerte seinen Bass auf der Bühne.
Setliste:
Á
Ekki Múkk
Glósóli
E-Bow
Dauðalagið
Fljótavík
Niður
Varða
Óveður
Sæglópur
Ný Batterí
Vaka
Festival
Kveikur
Popplagið
Am Ende hatten wir es eilig, denn wir wollten sehr gerne das Set von Jarvis Cocker sehen, der direkt im Anschluss im Raum "Norðurljós" auftreten sollte. Der Übergang klappte dann überraschend gut - wir konnten noch in den Raum hinein und hatten auch nicht den Anfang verpasst.
Ähnlich wie schon bei Kevin Shields war auch bei Jarvis Cocker die Frage, was er überhaupt darbieten würde. Einen Vortrag würde er schon einmal nicht halten, das hatte er ja bereits am Vortag getan. Dort hatte er auch einen Pulp-Song allein mit der akustischen Gitarre dargeboten. Also eine Soloperformance? Cockers Soloalben sind 2006 und 2008 erschienen, seine letzte Veröffentlichung, eine Kollaboration mit Chilly Gonzales, würde er sicherlich nicht ohne diesen präsentieren. Und am bekanntesten ist Cocker für seine Band Pulp, deren letztes Album aber schon sechzehn Jahre alt ist.
Vor Ort zeigte sich, dass Cocker eine Band dabei hatte. Er betrat die Bühne mit einem Handspiegel vor dem Gesicht und sang ein Lied, das offenbar neu war. Anschließend ging es weiter mit einer Mischung aus neuen Songs, die meist angesagt wurden, sowie älteren, die vorwiegend Cockers Soloalben entstammten. Jarvis erklärte, er sei vor drei Monaten gefragt worden, ob er beim Festival auftreten könne, habe zunächst Nein gesagt, sich anschließend umentschieden und seitdem geprobt.
Zwischen den Liedern gab es stellenweise recht lange und stets höchst amüsante Exkurse zu allem möglichen, etwa der Frage, ob Elvis je in Island gewesen sei und zum berühmten isländischen Klatschen bei der letzten Fußball-Europameisterschaft. Am absurdesten war vermutlich sein Gespräch mit jemand in der ersten Reihe, das Jarvis begann, in dem er fragte, ob er den Pullover der Person anfassen dürfe und dann uns weiter hinten erklärte, das sei nicht seltsam von ihm, die Person habe den Pullover nämlich aktuell gar nicht an - weiter ging es dann mit ein paar Sätzen über den Vorteil von Kunstfaser (50% Polyester - that gives it durability).
Wieder einmal hatte auch Mary Lattimer eine kleine Rolle, denn sie stand im Publikum direkt vor uns, und Jarvis fragte nach ihr, weil sie in der aufgenommenen Version von "You're in my eyes (Discosong)" die Harfe gespielt hatte. Heute Abend übernahm das jemand anderes, aber die Musiker-(oder Harfisten-?) welt ist offensichtlich klein. Insgesamt fanden im Verlauf des Abends gleich fünf Lieder ihre Live-Premiere.
Wie häufig bei Musikern, die zwischen den Liedern viel sprechen, ging das Set viel zu schnell vorbei. Als Zugabe wünschte sich jemand im Publikum laut "Razzmatazz", allerdings vergeblich. Jarvis tat so, als würde er dieses, vermutlich isländische, Wort nicht kennen, freute sich aber dennoch über die Begeisterung, die diesem Lied entgegen gebracht wird. Wir bekamen dennoch einen Pulp-Song, aber einen recht unbekannten: "His 'n' Hers" ist auf dem gleichnamigen Album gar nicht enthalten, sondern war nur auf der "The Sister EP".
Cockers unveröffentlichte Lieder klingen größtenteils vielversprechend (also stark nach Pulp), hoffentlich kommt bald etwas Neues von ihm.
Setliste:
Sometimes I Am Pharoah
Elvis has left the building
Further Complications
You're in my eyes (Discosong)
Must I evolve?
Fat Children
Am I missing something
Swanky Modes
Cunts are still running the world
His 'n' Hers
Unser letzter Weg des Festivals führte nochmals nach "Silfurberg", wo nun Ulrich Schnauss (zumindest für uns) das Festival abschloss. Ich kannte den Musiker vorab überhaupt nicht, er ist neben seiner Solomusik vor allem im Bereich Soundtrack aktiv und zu meiner Überraschung ein Mitglied der Band Tangerine Dream (zu meiner Überraschung, weil ich nicht wusste, dass die Formation noch existiert).
Schnauss spielte überraschend dezentral auf der Bühne Synthesizer, während er den Fokus den zu seinen Songs laufenden Videos überließ - die Stadtlandschaften, Architektur und Fabrikgelände zeigten. Die Publikumsreaktionen fielen dabei sehr unterschiedlich aus: Während manche sich auf den Boden setzten oder legten, um die Musik still zu genießen, bildeten sich auch kleine Grüppchen, die dazu tanzten.
Ich selbst fand die Melodien durchaus angenehm, war mir aber auch der Tatsache bewusst, dass ich dringend ins Bett musste, denn für den nächsten Tag war frühes Aufstehen und ein Ausflug in den Süden der Insel angesagt. Deshalb drängte ich nach einer halben Stunde des Sets zum Aufbruch.
Insgesamt war das Norður Og Niður Festival für mich wohl am ehesten in der Kategorie "interessante Erfahrung" zu verbuchen. Musikalisch war doch sehr viel dabei, dass mich nicht packen konnte, oder das ich schlicht nicht verstand. Andererseits war ich wohl noch nie bei einer Veranstaltung, die so stark nach einer "Handschrift" ausgerichtet war, wo also die Planer diverse der Künstler seit langem kannten und wo sich immer wieder Kollaborationen von Künstlern ergaben, die man bereits in einem anderen Kontext gesehen hatte. Sehr gut fand ich auch die Idee, die Veranstaltungen über das Erwartbare hinaus zu erweitern, indem man etwa auch einen Vortrag über Gletscher oder einen Lebkuchenhaus-Backwettbewerb ins Programm aufnahm.
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