Recycling: Touching from a distance

by - Juli 15, 2011

Heute wäre Ian Curtis 55 geworden. Im Grunde kein hohes Alter, denke ich nun, immerhin bin ich ja selbst fast 40. Curtis starb aber bereits 1980 und wurde nicht einmal 24 Jahre alt, folglich erscheint einem sein Leben ziemlich historisch. Als vor einigen Jahren Anton Corbijns Film Control herauskam, las ich parallel das Buch, auf dem dieser beruht. Und schrieb bereits damals einen Blogeintrag darüber.

Über Joy Division habe ich nie sonderlich viel gewusst. Klar, Ikonenband der Achziger, weitestgehende Personalübereinstimmung mit den von mir hochgeschätzten New Order, Love Will Tear Us Apart, sehr junger Selbstmord des Sängers. Das dürfte wohl mein Gesamtwissen bis vor einigen Wochen erschöpfend umreißen. Als ich in den letzten Jahren begann, Musik von Interpol und den Editors zu hören, war mir dabei auch durchaus bewusst, dass ich vom „Original" dieser doch recht stark beeinflussten Nachahmer herzlich wenig Ahnung hatte.

Schon sehr lange dagegen mag ich Anton Corbijn – an seiner Arbeit kam man als Depeche Mode-Fan der 80er Jahre ja auch nicht vorbei, und wie schön diese Videos waren! Häufig zeichneten sie sich durch schwarz-weiße Grobkörnigkeit aus, typische Achziger-Ästhetik eben, und zumindest schwarzweiß kommt auch Corbijns erster Spielfilm Control daher – und schon allein deshalb war klar, dass ich den Film gerne sehen wollte. Dabei noch etwas über Joy Division zu erfahren, konnte nicht schaden, immerhin genießt Curtis bei seinen Fans denselben seltsamen Ruf, den jeder erwirbt, der berühmt ist und sehr jung stirbt.


Aufgrund meiner fehlenden Vorkenntnisse habe ich den Film also relativ unvoreingenommen gesehen. Er zeigt, wie der junge, hochintelligente und extrem kreative Ian seine Frau Debbie kennenlernt und sie mit 19 heiratet. Kurz darauf wird er Mitglied von Joy Divisions Vorgängerband und erreicht mit dem bald einsetzenden Ruhm eigentlich die Realisierung aller seiner Träume. Gleichzeitig wird er nicht glücklich: Er erkrankt an Epilepsie, die Ehe zu Debbie scheitert, loslassen will er sie aber auch nicht. Er verliebt sich in Annik, doch die neue Beziehung zerreißt ihn noch mehr. Die Kombination der beiden Beziehungen, seine ihn immer mehr beanspruchende und auslaugende Bühnenkarriere und das Leiden an seiner Krankheit und den Medikamenten, die er nehmen muss, führen den von Anfang an nicht sonderlich ausgeglichenen Ian in eine Depression. Er begeht am Vorabend von Joy Divisions erster USA-Tournee Selbstmord.

Der Film basiert zu großen Teilen auf der Biographie Touching from a Distance, die Debbie Curtis über ihren Mann verfasst hat. Am Film war sie ebenfalls beteiligt. Das verwundert etwas, denn mit dem Beginn des Erfolgs für Joy Division begann auch die Entfremdung zwischen Ian und Debbie, und Debbie war bei Konzerten nicht mehr willkommen. Von der Affaire wusste sie natürlich zunächst auch nichts. Viele Szenen des Films zeigen also Situationen, die sie nie gesehen haben kann.


In der Tat zeigt sich beim Lesen des Buches, dass der Film mehrere Quellen haben muss: Debbie bleibt hier weitestgehend bei ihrer Perspektive und kann viele Ereignisse, wie zum Beispiel Ians ersten epileptischen Anfall auf der Rückfahrt von einem enttäuschenden Konzert in London in einem ungeheizten Auto, nur vom Hörensagen erzählen. Und über ihre Rivalin hat sie natürlich weder detaillierte Informationen noch eine gute Meinung – hier unterscheidet sich der Film gravierend von ihrer Vorlage. Während Debbies Frustration gegenüber ihrem distanzierten, untreuen und unehrlichen Ehemann sehr gut verständlich ist, macht sie das Lesen des Buches stellenweise unbequem: Es fühlt sich einfach falsch an, so viel über Ians schlechtes Benehmen zu erfahren, ohne, dass er eine Gelegenheit hätte, seine eigene Perspektive zu zeigen. Zumal diese bei einem derart sensiblen und gebildeten Menschen auch sicherlich interessant wäre.

Dennoch, gerade Debbies Ehrlichkeit, die auch sie selbst nicht immer im besten Licht erscheinen lässt (so schildert sie die leicht lächerliche Episode, in der sie Annik an deren Arbeitsplatz anruft und informiert, dass sie sich von Ian scheiden lassen und Annik als Grund angeben werde – in der sicherlich falschen Meinung, dass dieser Umstand für Annik eine riesige Peinlichkeit wäre), lässt das Buch authentisch wirken. Die Schilderung der letzten Tage in Ians Leben, an denen er mit vielen Menschen die unterschiedlichsten Gespräche führte und doch niemand ahnen ließ, dass sein Entschluss zu sterben längst fest stand, ist besonders ergreifend.

Deborah Curtis lässt kaum einen Zweifel an ihrer Überzeugung, dass Ian sterben wollte und dies bereits viel früher – noch vor der Gründung von Joy Division – beschlossen hatte. Als verstärkende Umstände sieht sie seine Epilepsie und die starken Medikamente, die er dagegen nehmen muss – beide Faktoren dürften die Depressionen verstärkt haben, und der National Health Service war hier keine große Hilfe.

War das wirklich alles? Viele Fragen bleiben offen, aber das ist wohl bei allen Selbstmorden so. Übrig bleibt die Erkenntnis, dass die düsteren Joy Division-Texte keine Posen oder Gedankenspiele darstellten, sondern völlig ernst gemeint waren.

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