Gelesen: Februar 2024
Ups! Dass ich angesichts der vielen Jahresbestenlisten im Dezember nicht auch noch Monatsfavoriten küre, hat durchaus Tradition. Dass ich im Januar dann gleich auch noch blau gemacht habe, ist allerdings eine Neuheit. Immerhin hat das als Nebenwirkung, dass ich nun auf eine kleine Auswahl von Büchern zurückgreifen kann, die ich in dem Zeitraum gelesen und gehört habe.
Für den Rückblick habe ich Radio Sarajevo ausgewählt, die Autobiographie von Tijan Sila, in der er seine Kindheit in Sarajevo beschreibt - aus dessen Kriegsgeschehen die Familie 1994 nach Deutschland floh. Sila war mir erstmalig als kluger und interessanter Gast im Podcast "Apokalypse und Filterkaffee" begegnet. Er hat in der Vergangenheit bereits Romane veröffentlicht, die ich allerdings nicht kenne, Radio Sarajevo ist wie erwähnt eher ein Erlebnisbericht, in dem er nach eigenen Angaben allenfalls Personen und Ereignisse durch Zusammenfassung "verdichtet" hat, aber keine fiktionalen Elemente hinzugefügt hat.
Für mich als Deutsche ohne großartige Kenntnisse über Bosnien oder das ehemalige Jugoslawien war selbst der Beginn der Erzählung ein kleiner Kulturschock, der kleine Tijan ist nämlich wie ich ein Kind aus einer Akademikerfamilie - nur, dass das im Sarajevo der 1990er Jahre eben nicht dazu führte, dass man in behüteten Verhältnissen in einer großen Altbauwohnung aufwuchs, sondern, dass man zu viert eine Miniwohnung in einer Plattenbausiedlung bewohnt und von den mehrheitlich eher handwerklich orientierten Nachbarn etwas argwöhnisch betrachtet wird.
Eigentlicher Fokus der kurzen Erzählung ist aber natürlich die Schilderung des Krieges aus kindlicher Perspektive. Das geschieht durchaus sachlich und pragmatisch, so dass ich mich beim Lesen gelegentlich daran erinnern musste, wie furchtbar die Informationen, die ich gerade bekomme, eigentlich sind - etwa, wie es sein muss, wenn von einem Tag auf den anderen die Versorgung mit Lebensmitteln, Strom und Heizmaterialien komplett zusammenbricht, oder wenn die Kinder ganz selbstverständlich durch die Ruinen von Geschäften ziehen, um dort nach Tauschmaterialien zu suchen.
Andere Erlebnisse. wie erste Begegnungen mit Verwundeten und Sterbenden, oder auch die Tatsache, dass die Jungendlichen irgendwann beginnen, Klebstoff zu schnüffeln, weil sie die dauerhafte Mischung aus Angst und Langeweile nicht mehr aushalten, sind auf eine unmittelbarere Weise furchtbar.
Die letzten Kapitel schildern die Flucht nach Deutschland und Silas erste Wochen dort. Was sich als überraschend harmonischer Neuanfang für ihn liest (er wird auch ohne deutsche Sprachkenntnisse in seiner neuen Schule sehr freundlich aufgenommen), fordert geradezu eine Fortsetzung: Sila deutet im Buch immer wieder an, dass seine beiden Eltern in Deutschland letztlich nicht glücklich geworden sind. Auch dieser Teil der Geschichte wäre sicher interessant zu lesen und ebenso Perspektiven-erweiternd.
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