Drei Jahre ist es schon her: Damals besuchten mein Freund und ich erstmals das Kunstrasen-Festival in Bonn.Wir sahen Thees Uhlmann, unter Corona-Bedingungen mit festen Sitzplätzen. Noch länger her war allerdings mein letzter Besuch eines Konzertes von The National - dieser hatte 2019 in Frankfurt stattgefunden. Damals war gerade das Duett-lastige Album "I am easy to find" erschienen (und bestimmte die Setliste), erst letztes Jahr gab es etwas Neues, aber dafür gleich zwei Alben: "First Two Pages of Frankenstein" und "Laugh Track". Höchste Zeit also, die Band wieder einmal live zu sehen, und wir erwarben schon sehr früh im Jahr Tickets. Nachdem der Kunstrasen mittlerweile als normales Open Air mit Stehplätzen stattfindet, leisteten wir uns sogar "Front of Stage"-Tickets, um optimale Sicht auf die Bühne zu bekommen.
Dieser Entschluss war absolut richtig, denn obwohl der Einlass für diesen ersten Abend der Veranstaltungsreihe (bis August kann man hier noch so unterschiedliche Acts wie ZZ Top, Zucchero, Bushido und Keane sehen) wurde für 17 Uhr angesetzt, das war für uns an einem Wochentag nicht machbar - da war es gut, zu wissen, dass für uns in jedem Fall Platz im Vorbühnenbereich sein würde, und gegen kurz nach 18 Uhr waren wir dann auch vor Ort - und mit uns insgesamt 5.500 andere Konzertbesucher. Ausverkauft war die Veranstaltung allerdings nicht. Wir freuten uns, dass der Bereich direkt vor der Bühne im Schatten lag, denn auch am frühen Abend war es noch ordentlich warm.
Gegen 18:30 trat zunächst die Musikerin Bess Atwell auf. Das neueste Album der Engländerin aus Brighton wurde von Aaron Dessner produziert, was ihr wahrscheinlich auch gleich den Slot gesichert hatte - auch 2019 hatte die Vorband diesen Hintergrund gehabt. Atwell hatte drei Musiker dabei und erzählte zu manchen ihrer Songs Geschichten - der Hintergrund von "Crowds" ist beispielsweise, dass sie mit einem Expartner auf Tour ging, die Beziehung beim Buchen der Hotelzimmer aber noch intakt gewesen war und man deshalb nur Doppelzimmer reserviert hatte. Zu "Something New" erwähnte sie, dass es Aaron Dessner gewesen sei, der durchgesetzt habe, dass das Lied aufgenommen und veröffentlicht wurde.
Ich fand die Songs nett, aber wenig abwechslungsreich und stelle mir vor, dass das Set besser in einen kleinen, dunklen Club gepasst hätte, in dem ich mich hoffentlich besser auf die Texte hätte konzentrieren können als im recht unruhigen Festivalpublikum. Mein Freund widersprach mir und meinte, das Setting sei genau richtig, so lange er bei dem Auftritt auf einer Wiese liegen und wegdösen könne. Das Set umfasste sechs Lieder und dauerte genau die veranschlagte halbe Stunde.
Setliste:
Sylvester
Co-op
Something Now
Time Comes in Roses
The National haben ein Feature ihrer 2019er-Tour beibehalten: Bevor die Musiker die Bühne betraten, konnte man auf dem großen LED-Bildschirm im Bühnenhintergrund ein (Live-)Video sehen, in dem Band und Anhang sich auf den Weg zum Auftritt machten. Später, während des Konzertes zeigte der Screen übrigens weitestgehend Livebilder und nicht wie bei vergangenen Konzerten vorbereitete Animationen.
Am Lineup von The National hat sich nichts geändert: Die musikalischen Chefs, Bryce und Aaron Dessner, waren für uns nur dadurch zu unterscheiden, dass einer von beiden Brille trug und der andere ein Käppi. Beide spielten viel Gitarre, wechselten aber auch auf andere Instrumente und waren offenbar bestens gelaunt. Oft standen sie auf ihren jeweiligen Seiten mit ihren Gitarren am Bühnenrand, spielten oder animierten zum Klatschen. Zu "I need My Girl" unternahm der von uns aus gesehene linke Bruder seltsam aussehende Aktivitäten mit einer Gitarre, der er durch Schwenken und Drehen Geräusche entlockte, ohne sie zu spielen - während er seine "Spielgitarre", die nicht benötigt wurde, umgehängt hatte.
Das andere Bruderpaar der Band, Bryan und Scott Devendorf, trug neonfarbene Kappen, hielt sich aber wie gewohnt sonst sehr im Hintergrund - dasselbe galt für die Tourmusiker Kyle Resnick und Ben Lanz, die abwechselnd Trompete und Keyboard spielten.
Star der Show war wie immer Matt Berninger, der wie gewohnt einen Anzug trug, das Sakko jedoch schon bald abwarf. Berninger war schon immer ein extrem emotionaler Frontmann, und ich habe mich schon bei mehreren Auftritten in der Vergangenheit gefragt, inwieweit sein gequältes und häufig gleichzeitig auch angetrunken wirkendes Benehmen authentisch ist - und inwieweit es eben zu seinem Image gehört. Eine Antwort habe ich bislang nicht gefunden.
Neu war verhaltenstechnisch auf jeden Fall, dass Berninger sich offenbar an diesem Abend vorgenommen hatte, die (von ihm geschriebenen) Songtexte pantomimisch darzustellen. Er sang kaum ein Wort, ohne sich gleich eine passende Geste auszudenken. Bei all diesen Darstellungen mussten wir manches Mal an den König der emotionalen Darbietung von Songtexten denken, Samuel T. Herring von Future Islands, der auch gerne mal auf der Bühne unsichtbares Kätzchen streichelt oder sich, zum Glück ebenfalls unsichtbar, das Herz herausreißt. Berninger imitierte etwa zu "Alien" ein gruseliges Wesen mit Tentakeln, das andere fressen wollte.
Der Sänger arbeitet aber auch gerne mit Requisiten: Zu einem Song ließ er sich aus dem Publikum einen Fächer zuwerfen, und nachdem er sich bei anderer Gelegenheit über Seifenblasen im Publikum gefreut hatte, wurde ihm das Fläschchen Pustefix anschließend offenbar ebenfalls auf die Bühne geworfen, so dass er selbst später selbst einige Blasen kreieren konnte.
Das Publikum wurde aber ebenfalls mit Geschenken bedacht, Berninger warf nach und nach einen vollen und einen leeren Getränkebecher ins Publikum, dazu noch einige Eiswürfel. Neben den schauspielerischen Einlagen war am beeindruckendsten, dass Berninger irgendwann singend und im Liegen eine aus dem Publikum via die Security auf die Bühne gereichte Platte signierte. Spoiler bezüglich Geschenken: Ganz am Ende warf einer der Dessners noch um die 20 Plektrons ins Publikum.
Die Setliste fokussierte sich neben den beiden neuen Alben (je drei Songs) auf "High Violet" (sechs Songs), bei insgesamt 25 gespielten Liedern blieb aber zusätzlich Platz für alle Bandepochen. Bei der aktuellen Tour gibt es anscheinend ein festgelegtes "Gerüst" von Songs mit einigen Variationen und Platz für Änderungen. Nach "I need my girl" kündigte Berninger "Apartment Song" als "this is about the same girl" an - vielleicht gab es ja noch mehr thematische Zusammenhänge.
Ein Dessner-Bruder kündigte nach "Conversation 16" den nächsten Song an, es handelte sich um das mir unbekannte "Cherry Tree" von einer gleichnamigen EP, das bei weitem nicht bei jedem Termin gespielt wird. Für "Rylan", eines der Duette von "I Am Easy To Find" (im Original singen Gail Ann Dorsey und Lisa Hannigan mit), kehrte Bess Atwell nochmals auf die Bühne zurück und übernahm die andere Duettstimme. Hinterher umarmte sie Berninger sowie den rechten Dessner-Bruder, der also vermutlich Aaron war.
Nach dem Ende von "England" unterbrach Berninger, um zu sagen, dass jemand im Publikum Hilfe bräuchte. Offensichtlich war ein Konzertgast in unserem Bereich ohnmächtig geworden - oder kurz davor. Die Band pausierte, bis Sanitäter durch die Menge kamen und halfen - was erstaunlich lange dauerte. Berninger wirkte mit der Situation etwas überfordert, auch die anderen Bandmitglieder schienen, als nicht sofort jemand kam, um zu helfen, ratlos zu sein. Als die Sanitäter dann endlich kamen, wurde ihnen seitens Band und Zuschauern applaudiert.
Matt Berninger ist unter anderem bekannt für seine Ausflüge ins Publikum. Als wir das Gelände betreten hatten, hatte ich zunächst bezweifelt, dass dieses Mal ein solcher stattfinden würde - die Bühne erschien sehr hoch, und es war keine Abstiegsmöglichkeit zu sehen. Berninger fand aber natürlich einen Weg - schon bei "Conversation 16" machte er einen ersten Ausflug in den Graben und knuddelte einen Konzertbesucher ordentlich durch (ganz angenehm kann das für diesen, dessen Kopf kräftig geknetet wurde, nicht gewesen sein).
"Fake Empire" kündigte Berninger als "Song about America" an und setzte nach, "Can I have 3 or 4 drinks please, immediately! Ob die Bestellung dem Durst geschuldet war oder der politischen Lage der USA, blieb offen. Nach "Space Invader" ging man nach kurzer Pause zu den Zugaben über. In deren Rahmen ging es für Berninger zu "Mr. November" ein weiteres Mal ausführlich ins Publikum, während die Bühnenhelfer hektisch Mikrophonschnur abwickelten.
Den Abschluss des Konzertes bildete, wie meistens bei The National, "Vanderlyle Crybaby Geeks", für das sich alle Musiker im vorderen Teil der Bühne versammelten. Berninger sang allerdings dieses Mal so gut wie überhaupt nicht, sondern richtete sein Mikrophon samt Mikrophonständer auf das sehr textsichere Publikum. Berninger unterbrach den Gesang des Publikums kurz, um nochmals auf eine Person im Zuschauerraum aufmerksam zu machen, der es anscheinend nicht gut ging, das war aber wohl falscher Alarm. Berninger setzte nochmals mit dem Refrain an, ließ den bis dahin gehaltenen Mikrophonständer in den Graben fallen und verlor den Faden. Er witzelte "Now we have to start the whole show over!" Er ging schon in die Dankeschöns über, als ihn ein Dessner-Bruder antippte und sie den Song doch noch gemeinsam mit dem Publikum zu Ende bringen konnten.
Über zwei Stunden dauerte das Konzert in Bonn und vermittelte den Eindruck, dass The National aktuell gut gelaunt und spielfreudig sind. Ein schöner Abend, und bis zum nächsten Liveerlebnis vergehen hoffentlich nicht wieder fünf Jahre.
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