Die Geschmäcker sind verschieden. Diesen Gemeinplatz äußerte ich am Festivalsamstag um die hundert Mal, weil sämtliche meiner Mitreisenden sich einig waren: Das musikalische Lineup lag heute irgendwo zwischen Enttäuschung und Katastrophe.
Die Tages-Headlinerin Zaz war bereits bei einer früheren Auflage des Summer's Tales aufgetreten - wir waren nach zwei Liedern gegangen, aber auch damals war erkennbar gewesen, dass die französische Sängerin aus dem Genre Nouvelle Chanson bei anderen gut ankam. Dann konnte man an diesem Tag unter anderem noch Faber sehen, von dem ich bereits seit dem Traumzeit-Festival letztes Jahr weiß, dass ich seine Musik nicht mag, und einen australischen Sänger namens Xavier Rudd, der mir vorab zwar unbekannt war, aber mit den wenigen Klängen, die ich von seinem Auftritt mitbekam, das Urteil meines Freundes bestätigte, dass es sich um seichte, nichtssagende Weichspülpopmusik mit Weltmusik-Touch (Didgeridoo!) handelte.
Die aber sehr gut ankam, wie auch der nachmittägliche Auftritt (ebenfalls eine Wiederholung) von Shantel & Bucovina Club Orkestar, der vor der Hauptbühne die Besuchermassen (gut, Massen waren es nicht, aber der Samstag war deutlich besser besucht als die übrigen Tage) zum Tanzen anregte - und uns nur vertrieb.
Was ich damit sagen will: Auch, wenn uns das Samstags-Lineup wirklich nicht gefiel, kann man dem Booking an sich keine Vorwürfe machen, denn sämtliche von uns abgelehnte Künstler kamen grundsätzlich bei den Besuchern gut an. Wir hatten einfach Pech, dass so gar nichts für uns dabei war.
Gar nichts? Mein Freund wäre natürlich nicht er selbst, wenn es uns nicht trotz widriger Umstände doch ein straffes Musikprogramm zusammen gestellt hätte! Selbiges begann um halb eins mit ClickClickDecker.
Die Band unterhielt nicht nur durch ihre durchaus gute Musik mit kreativen Texten, sondern vor allem auch durch die lustigen Dialoge zwischen den Mitgliedern. Wir erfuhren detailliert, dass man sich bereits um 6 Uhr morgens auf den Weg gemacht hatte, um 8 die erste Rast an der Autobahn eingelegt hatte und überrascht gewesen sei, weil um diese frühe Zeit dort schon einiges los war. Das Lunchpaket der Unterkunft, wo sie die letzte Nacht verbracht hatten, hatte hartgekochte Eier enthalten, und die Band überlegte laut, ob man die übrigen, die aktuell im warmen Bus lagerten, signieren und als Merchandise anbieten könnte - zumal sie sonst keinen dabei hatten. Nicht dabei hatten sie außerdem ein langes Kabel - Kevin Hamann wollte wie alle anderen Sänger des Festivals die Bühne verlassen und im Publikum wandeln - und fragten nach, ob das Publikum vielleicht mit einem aushelfen könnte. Als Belohnung hätte man sich eines der Eier verdienen können.
"Ich häng irgendwo dazwischen" stammt vom ersten Teil der Kindersampler-Serie "Unter meinem Bett" und bestätigte unsere These, dass man auch gute Kindermusik machen kann. Laut der Band ist das beste Lied des Samplers übrigens "Kommissar Ärmchen" von Olli Schulz.
"Zwei Klettergerüst" endete mit seltsam verzerrtem Gesang, der alle, Band wie Publikum, zu überraschen schien. Kevin Hamann erklärte, dass er den Tonmann bei jedem Auftritt bitte, ihn mit einem neuen Sound zu überraschen, und dieses mal habe er sich das Geräusch eines Eierkochers gewünscht.
Das Set schloss überraschend ohne unser Lieblingslied "Tierpark Neumünster". Mein Freund erklärte Clickclickdecker aber dennoch zum besten Hauptbühnenact des Tages.
Setliste:
Mandelika
Läuft es eher daneben
Stoßlüften
Was kommt wenn nichts kommen will
Und darüber nachdenken nicht nötig
Die Nutzlosen
Minutenklopfer
Ich häng irgendwo dazwischen
In Altona tank ich mal einen guten Kaffee
Zwei Klettergerüst
Mit Naumanns Füßen
Sozialer Brennpunkt
PT82 oder das Paarungsverhalten der CT Serie
Wer hat mir auf die Schuhe gekotzt
Nach dem Konzert machten wir einen Versuch, doch noch an dem am Vortag zu Gunsten Kettcars gestrichenen Workshop "Bliss Balls" teilzunehmen, scheiterten aber trotz Ankunft 45 Minuten vor Beginn an der langen Schlange von Interessenten. Für die Lesung von Giulia Becker war es nun auch schon zu spät, also gingen wir uns eine weitere Band ansehen: Das Paradies.
Dabei bezieht sich der Name eigentlich auf einen Einzelkünstler aus Leipzig, Florian Sievers, der allerdings zwei Mitmusiker dabei hatte. Dem Publikum berichtete er von all den Sehenswürdigkeiten, an denen die Gruppe auf dem Weg zum Festival vorbei gekommen war. Und als ihm die Ortsnamen nicht gleich einfielen, ergab sich daraus eine Art Wechselruf mit dem Publikum: "Panzermuseum?" "Munster!" "Heidepark?" "Soltau!" "Weltvogelpark? "Walsrode!"
Das Paradies war schon einmal Vorband von Element of Crime, was auch gut passt. Wir hörten eine Reihe nachdenklicher Lieder und ein Cover namens "Wann strahlst du" von Erobique & Jacques Palminger. Dieser Song war auch eine Quasi-Zugabe, weil vorher die Instrumentierung (aus der Dose) von "Das Universum weiß es auch nicht" nicht so gut funktioniert hatte.
Setliste:
Hier bist du sicher
Du, die anderen und ich
Dürfen die das
Sonne, Mond und Sterne
Hinter deiner schönen Stirn
Eis auf einer Scholle
Ein schönes Unentschieden
Es gab so viel, was zu tun war
Discoscooter
Das Universum weiß es auch nicht
Wann strahlst du?
Nach einer weiteren Runde übers Gelände und dem zunächst vergeblichen Versuch, hochwichtige Aufkleb-Tattoos zu bestellen (auch hier war der Andrang groß) sahen wir uns auf der Waldbühne einen weiteren Act an, Mine. Mein Freund hatte einige Songs der Sängerin in seiner "Festival-Vorbereitungs-Playliste" gehabt, die mich gar nicht sonderlich begeistert hatten, aber live mochte ich die Sängerin, die schon seit acht Jahren mit ihrem Mitmusikern arbeitet und auftritt, aber erst in jüngster Zeit anfängt nennenswerten Erfolg zu haben (und beispielsweise zu Festivals eingeladen zu werden), deutlich besser.
Mine, die mit Topfschnitt, goldener Hose, bauchfreiem Oberteil, Leo-Kimono und Brille auf mich ausgesprochen berlinerisch wirkte, stammt tatsächlich aus Stuttgart. Als Kind hat sie in ihrem Zimmer bereits eigene Musikaufnahmen erstellt und ließ sich, wie sie erzählte, von Kleinigkeiten, wie der Tatsache, dass sie weder Englisch noch ein Instrument beherrschte, nicht groß aufhalten. Die selbstbewussten Ankündigungen dieser alten Kassetten nutzte die erwachsene Mine als Samples (etwa ein kindlich-schwäbisches "Seid ihr bereit?").
Nur beim ersten Lied kam eine Keytar zum Einsatz - für eine bestimmte Generation Deutsche für immer mit Modern Talking verbunden... die restliche Instrumentierung des Auftritts war konventioneller, für das Lied "Spiegelbild" holte Mine jedoch als Gast ein Mitglied des Berliner Duos AB Syndrom auf die Bühne, mit dem zusammen sie sogar eine kleine Choreographie aufführte. Der Song, für den reichlich Autotune eingesetzt wurde, gefiel mir aber im Set mit am wenigsten.
Sehr gut fand ich dagegen "Klebstoff", das sich um den Tod von unter anderem Mines Mutter dreht und das schlechte Gewissen, nicht genug für die andere Person dagewesen zu sein. Das Lied nahm die Sängerin offensichtlich auch emotional noch mit. Außerdem mochte ich gerne "Erdbeeren ohne Grenzen" dessen Text sehr schön das Weiterschieben der Verantwortung für Misstände (hier: schlechte Musik bei Labels und im Radio sowie Supermarkterdbeeren im Winter) darstellte.
Das Publikum war so begeistert, dass eine - möglicherweise einkalkulierte - Zugabe gegeben werden musste.
Setliste:
Du kommst nicht vorbei
Ziehst du mit
Mon cœur
Der Mond lacht
Klebstoff
S/W
Erdbeeren ohne Grenzen
Spiegelbild (mit AB Syndrom)
Einfach so
Katzen
90 Grad
Das Ziel ist im Weg
Weiter ging es nun, ebenfalls auf der Waldbühne, mit dem eigentlichen Tageshighlight meines Freundes: 11Freunde live. Die beiden Redakteure Philipp Köster und Jens Kirschneck bereisen schon seit 2005 das Land und erzählen bei ihren Auftritten Kuriositäten aus der Fußballwelt. Der Auftritt wechselte ab zwischen vorgelesenen Texten aus dem Heft und Einspielern auf einer extra für den Tag aufgestellten Videowand. Hier wurden auch Rubriken aus dem Heft, etwa eine Bilderserie zu "Bei der Geburt getrennt" gezeigt.
Köster erzählte auch von seinen Auftritten in der DSF-Fernsehsendung "Doppelpass" und wie seine Anfangshypothese, dass es darin darauf ankomme, etwas Vernünftiges zu sagen zu haben, energisch widerlegt wurde. Schön war auch eine Serie von Clips zum Thema "Freistoß-Spray", in denen Spieler und Schiedrichter beim Einsatz von selbigem lustig aneinander gerieten.
Auch für mich als Nicht-Fußballfan war dieser Auftritt durchaus unterhaltsam, und es tat mir leid, als ich meinen noch viel gefesselteren Freund zum Aufbruch nötigen musste, weil ein Workshop auf uns wartete. Meine einzige kritische Anmerkung zum 11Freunde-Auftritt: Warum wurde dafür die Waldbühne benötigt? Eines der größeren Zelte (Wissenszelt oder Tale's Café) hätte es auch getan, auf der Bühne hätte parallel eine Band spielen können und die Sicht auf den LED-Screen wäre in Dunkelheit ebenfalls besser gewesen.
Im Wissenszelt startete nun aber der "Workshop" Tiger Tales des WWF, und auch bei diesem erschloss sich der Auftrittsort nicht so richtig. Wie bei allen Workshops hatte man die Wahl gehabt, sich vorab online anzumelden oder vor Ort zu sehen, ob man Tickets bekam. Nur war das Wissenszelt so groß und enthielt so viele Stühle, dass keinerlei Einlasskontrolle oder -einschränkung notwendig gewesen wäre. Tatsächlich war der Raum für unsere Version des Vortrags (er fand mehrmals statt) viel zu groß bemessen, und die Zuschauer verloren sich.
Außerdem hatte der Festival-Sponsor WWF sowohl sein eigenes Zelt, das für eine Ausstellung genutzt wurde, als auch einen kleinen Freiluft-Vortragsbereich, in dem auch die Tiger Tales hätten stattfinden können. Aber so fanden sie eben als Workshop statt.
Die WWF-Mitarbeiterin Kathrin Samson hielt einen von Bildern begleiteten Vortrag zum Thema Tiger in der Wildnis, den Gefahren, die sie dort ausgesetzt sind, den schrumpfenden Tigerzahlen weltweit und natürlich den Bemühungen des WWF, dafür zu sorgen, dass der Tiger langfristig überlebt.
Manches wusste ich schon, anderes aber auch nicht - etwa, dass man im Kontext Tiger zur Abwechslung positiv über Vladimir Putin sprechen kann, der sich sehr vehement und auch relativ erfolgreich dafür einsetzt, dass sich die Tiger-Heimatländer (neben Russland auch Indien, Malaysia, China, Thailand und Indonesien) um den Schutz ihrer heimischen Tiger kümmern.
Positiv ist anzumerken, dass Frau Samson sich sichtlich gut mit dem Thema auskannte und auch über eigene Erlebnisse berichtete, außerdem sprach sie die ganze Zeit frei. Im "didaktischen" Bereich war noch ein bisschen Luft nach oben, so hätte man in den 45 Minuten des Vortrags sicherlich mehr Bilder zeigen können, eventuell sogar Bewegtbilder. Vielleicht wäre es auch klug gewesen, die Vortragstermine im Vorhinein aufzuteilen und als Erwachsenen- beziehungsweise Kinderversionen anzukündigen - die Bedürfnisse beider Zielgruppen sind bei solch einem recht komplexen Thema doch recht unterschiedlich.
Im Anschluss stand schon das letzte Konzert unseres Abends an: Da wir uns der Hauptbühne verweigerten, sahen wir uns eben auf der Waldbühne Die Goldenen Zitronen an. Über die Hamburger Punkband wusste ich vorab im Grunde nur, dass es sie schon sehr, sehr lange gibt, und dass sie in den Achtzigern für ihr Lied "Am Tag, als Thomas Anders starb" einmal mächtig Ärger bekommen haben.
Wir wussten nicht wirklich, was uns live erwarten würde, und waren zunächst von den Kostümen der Band schwer beeindruckt. In einem Artikel las ich später, dass die Band, die sich Ende der Achtziger von einer Fun-Punk-Band in - ja, was eigentlich? Eine politische Band? - verwandelt hatte, seit dieser Zeit nur noch in Frauenkleidern oder aber Uniformen auftritt. Heute war offensichtlich Frauenkleidungs-Abend, wobei ich das uninformiert gar nicht so wahrgenommen hätte. Natürlich wirkten einige Kleidungsstücke feminin, aber das Leitmotiv schien mir vor allem "bunte Kunstseide" zu sein.
Ganz jugendlich sahen "die Goldis aus Hamburg", wie sie sich selbst wiederholt vorstellten, natürlich auch nicht mehr aus. Hauptsänger und Gründungsmitglied Schorsch Kamerun hatte die Songtexte als Ausdrucke dabei und musste bei den häufigen Positions- und Instrumentewechseln der Bandmitglieder immer seinen Notenständer mit den Textblättern mitnehmen.
Am Anfang hatte die Band noch nach Songwünschen gefragt und auf einen Ruf nach "Porsche, Genscher, Hallo HSV" sofort mit "Spielen wir nicht!" geantwortet.
Vielfach konnte ich die Texte live nicht gut verstehen, wenn ich es aber einmal doch tat, waren politische Botschaften aber definitiv vorhanden. "Scheinwerfer und Lautsprecher" dreht sich etwa (wie von Schorsch Kamerun erklärt) um die Verweigerung bestimmter Informationen, "Wenn ich ein Turnschuh wär" handelt von der Leichtigkeit, mit der Waren Grenzen passieren können, vor allem im Vergleich zu Menschen - das Lied wurde überraschenderweise schon 2006 geschrieben!
Zu diesem Lied ging Schorsch Kamerun auch ins Publikum und bat darum, einen Turnschuh mit auf die Bühne nehmen zu dürfen, den er auch sofort bekam (und nach dem Lied zurück warf).
Im Laufe der Zeit bildete sich vor der Bühne auch ein kleiner Moshpit, und wir sahen wiederum auch den kleinen Jungen, den wir schon bei so vielen Konzerten gesehen hatten. Dieses Mal saß er nicht auf den Schultern seines Vaters, sondern stand ganz vorne in der ersten Reihe an der Absperrung.
Grundsätzlich lösten Die Goldenen Zitronen durchaus Begeisterung aus und spielten noch zwei Zugaben-Songs. Für uns fiel der Auftritt eher in die Rubrik "haben wir das auch mal gesehen", denn musikalischer Genuss war meistens eher nicht gegeben.
Setliste:
80 Millionen Hooligans
Scheinwerfer und Lautsprecher
Der Investor
Positionen
Nützliche Katastrophen
Gebt doch endlich zu, euch fällt sonst nicht mehr ein
Heimsuchung
Wenn ich ein Turnschuh wär
Auf Dem Platz Der Leeren Versprechungen
20x20
Abwärts
Widersprüche
Wir verlassen die Erde
Angst und Bange am Stück
Meine kleine Welt
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