Gelesen: November 2020

by - Dezember 08, 2020

 

An David Mitchells letztem "richtigen" Roman The Bone Clocks quälte ich mich vier Monate lang herum. Für sein aktuelles Werk Utopia Avenue habe ich nun auch über drei Monate gebraucht, und auch dieser Roman ist in der gedruckten Form dick (576 Seiten, ich hörte ihn aber bei Audible, wo man für das Hörbuch mehr als 25 Stunden einplanen muss), man hätte ihn jedoch sicherlich schneller bewältigen können. Doch wie schon The Bone Clocks lässt mich auch Utopia Avenue gespalten zurück.

Anders als bei The Bone Clocks ist die Handlung von Utopia Avenue auf den ersten Blick simpel: Im London der späten 1960er Jahre lernt man die Mitglieder der gleichnamigen Band zunächst individuell kennen, dann überredet der Musikmanager Levon die vier dazu, es musikalisch einmal gemeinsam zu versuchen. Über den Zeitraum von zwei Jahren verwandelt sich die Ansammlung einander fremder Musiker in gute Freunde und Bandmitglieder, die einander perfekt ergänzen. Genauso langsam entwickelt sich ihr Erfolg von diversen Enttäuschungen hin zu einer umjubelten USA-Tournee. Gleichzeitig haben alle Musiker und auch Levon mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen, die jeweils in aus ihrer Sicht geschilderten Kapiteln erzählt werden.

David Mitchell wäre aber nicht David Mitchell, wenn er es nicht schaffen würde, in dieser eigentlich realistischen Handlung diverse Elemente aus seinen anderen Romanen unterzubringen, auch aus den phantastischen. Dass der geniale, aber von psychischen Problemen gequälte Gitarrist von Utopia Avenue Jasper de Zoet heißt, schafft eine Verbindung zu Mitchells Roman The Thousand Autumns of Jacob de Zoet, und tatsächlich entpuppt sich nicht nur Jacob als Vorfahr von Jasper, sondern auch dessen Schizophrenie als ein Leiden, das Leser von The Bone Clocks schnell als etwas anderes erkennen können. 

Neben diesen sehr offensichtlichen Verbindungen gibt es andere, weniger wichtige - so verliebt sich Bandmitglied Elf Holloway in eine amerikanische Journalistin namens Luisa Rey - um die sich auch ein Kapitel von Mitchells bekanntestem Roman The Cloud Atlas dreht. Diese "Easter Eggs" sind gut eingebaut - in Fällen wie dem von Luisa Rey können sich langjährige Leser freuen, die Referenz verstanden zu haben, anderen kann sie egal sein. Dort, wo, wie bei Jaspers Krankheit, die Ereignisse der anderen Geschichten für das Verständnis notwenig sind, werden diese im Laufe der Handlung erklärt.

Ebenfalls typisch Mitchell ist es, dass es viele, viele Nebenhandlungen gibt - kleine Untererzählungen, die keine riesige Relevanz für die Haupthandlung haben, aber dennoch lange im Gedächtnis bleiben - so zum Beispiel gleich die Eröffnungsszene, in der Bassist Dean von Trickbetrügern um sein gesamtes Geld gebracht wird und gleich darauf seine Wohnung verliert. 

In Utopia Avenue ließ es sich Mitchell auch nicht nehmen, das Who is Who der britischen und US-amerikanischen Musikszene auftreten zu lassen: Die aufstrebenden Musiker treffen im Laufe der Zeit Brian Jones, Frank Zappa, Jimi Hendix, Leonard Cohen, The Grateful Dead, John Lennon, Janis Joplin, Marc Bolan, Allen Ginsberg... manche Kritiker halten diese Prominentendichte für übertrieben, was ich verstehen kann.

Die fiktiven Begegnungen krankten für mich allerdings vor allem daran, dass mich die Musik der späten 1960er so gar nicht interessiert, schon gar nicht das Genre von Utopia Avenue, "psychedelic folk rock". Spielte der Roman in den 1980er oder 90er Jahren, könnte ich den fiktiven Musikergesprächen sicherlich mehr abgewinnen.

So sind es hauptsächlich die Geschichten rund um Jasper und Elf, die mich in ihren Bann ziehen konnten, darüber hinaus wird auch der kreative Prozess des Songschreibens und des Miteinanders einer Band sehr mitreißend beschrieben. Mein Fazit fällt dann ähnlich aus wie bei The Bone Clocks: Ein allemal lesens- oder hörenswerter Roman. Wer noch nichts von David Mitchell gelesen hat, sollte meiner Meinung nach aber nicht unbedingt hier anfangen, sondern bei The Cloud Atlas, The Thousand Autumns of Jacob de Zoet oder auch Black Swan Green, die alle noch besser sind.

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