Neulich als ich amtlich gerockt wurde: Die Ärzte in der Offenbacher Stadthalle

by - September 07, 2023


Am Freitagabend gab es für mich einen Konzertbesuch mit langer und gleichzeitig kurzer Vorgeschichte: Mein Freund hatte nämlich Tickets für die letztjährige "Berlin-Tour" der Ärzte ergattern können, letztlich musste unser gebuchtes Konzert aber krankheitsbedingt auf einen Termin verschoben werden, der für uns nicht machbar war (hier ließ ich mich ausführlich darüber aus). 

Eher am Rande bekam ich dann vor einigen Wochen mit, dass es schon wieder eine Ärzte-Tour geben sollte, überraschend und sehr kurzfristig angekündigt, und in Hallen, die an die Vergangenheit der Band erinnern sollten - was auch bedeutete, dass Spielstätten ausgewählt worden waren, die für den heutigen Erfolg der Ärzte eigentlich zu klein sind.



Und da ich der Sache so wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte, war ich dann ganz schön überrascht, als mein Freund mir eröffnete, dass er Tickets für uns besorgt hatte: Die Ärzte, in der Offenbacher Stadthalle, bei ihrer "Herbst des Lebens"-Tour, mit uns! 

Die Offenbacher Stadthalle ist so ziemlich die hässlichste Konzert-Location, die ich kenne und passt somit ausgezeichnet in das Bild, das die meisten Menschen ohnehin von dieser Stadt haben. Mein Freund und ich hatten uns für 18:30 Uhr, den Einlassbeginn, vor der Halle verabredet, doch entgegen meinen Erwartungen (das Konzert sollte erst eineinhalb Stunden später beginnen) hatten es fast alle anderen Besucher genauso gemacht. Wir ergatterten mit Mühe halbwegs Bühnen-nahe Stehplätze, während die ausverkaufte Halle immer noch voller - und bereits vor Konzertbeginn auch ordentlich warm - wurde.



Eine Vorband hatte man sich dieses Mal gespart (und wurde von mir auch nicht vermisst), und um Punkt 8 Uhr begann auf der von einem Vorhang verborgenen Bühne ein Intro mit Sprüchen der Bandmitglieder.

Als der Vorhang dann fiel, achteten wir natürlich zunächst auf die Musiker: Farin links, offenbar ohne altersbedingten Haarverlust, mittlerweile eher weiß als blond und in schwarzer Jeans mit schwarzem T-Shirt. Bela in der Mitte an seinem Schlagzeug zog sehr konsequent ein Schwarzweiß-Konzept durch: Haare, Kleidung, Schlagzeug, Drumsticks: alles in diesen zwei Farben gehalten. Rechts spielte Rod seinen Bass in einem eleganten dunklen Anzug. Ob seine Haarfarbe wohl noch echt ist? 



Die Bühnendeko war eher spärlich gehalten, immerhin hatte es für ein großes, beleuchtetes "Ä" gereicht. Farin und Rod haben offenbar unterschiedliche Verstärker-Vorlieben: Während sich hinter Farin die Marshall-Boxen stapelten, war es hinter Rod "Orange" - wobei sich eine von seinen Monitorboxen als im Verlauf des Abends als getarnter (und von Rod vielfach benutzter) Getränkekühlschrank entpuppte.

Los ging es mit "Wer verliert, hat schon verloren" vom relativ neuen Album "Hell" (2020) und dem deutlich älteren "Lied vom Scheitern" (2007), bevor es zu "Mein Baby war beim Friseur" (1996) den ersten kleinen Moshpit gab - die meisten Fans bevorzugen die Songs von vor der Jahrtausendwende. Farin dirigierte die Besucher zu mehreren gescheiterten Laola-Versuchen, bevor er zugab, dass seine Methode (Welle startet von hinten, man darf sich aber nicht umdrehen) auch nicht praktikabel war. Außerdem gab er eine Prognose ab: Aktuell würden wir ihn noch kritisch ansehen, in drei Stunden würden wir aber fix und fertig sein und nur noch nach Wasser und Luft ächzen... er sollte Recht behalten.



Bela erwähnte, er habe an diesem Ort einst W.A.S.P. und Iron Maiden gesehen (das muss 1987 gewesen sein), wozu Farin scherzte, damals sei er ja wohl noch nicht geboren gewesen. Die Ärzte seien ja ebenfalls auf dem Weg, eine 80er-Band zu werden, in mehreren Sinnen.

Schon nach wenigen Liedern war Belas Hemd komplett durchgeschwitzt (wir auch, das bisschen Bier, das mein Oberteil vom Moshpit abbekommen hatte, kühlte kaum), während Rod es überraschend lange in seinem sehr warm aussehenden Anzug aushielt. Als Bela ihn irgendwann darauf ansprach, behauptete Rod, er habe eine Lüftung - und nachdem er ja schon diesen unwahrscheinlichen Lautsprecherkühlschrank hatte, wer weiß?



Mein Freund hatte vor dem Abend bereits die Setlisten der beiden vorherigen Konzerte in Wien studiert und diese für äußerst merkwürdig befunden, das blieb auch an diesem Abend so: Warum Rod "Tamagotchi" singen lassen, wenn doch sicher kaum ein junger Mensch (von denen zugegebenermaßen wenige anwesend waren) weiß, was das überhaupt ist? "Die traurige Ballade von Susi Spakowski"? "Nie wieder Krieg, nie mehr Las Vegas!"? Bei Letzterem verspielte sich Bela am Anfang, brach ab und behauptete, der ehrlichste Drummer von allen zu sein, Lars Ulrich hätte sicher einfach weiter gespielt.

Grundsätzlich ließ sich aber eher kein Hang zum Perfektionismus erkennen, es wurden viele Anfänge versemmelt und sich dann übereinander lustig gemacht. Ich musste einmal wieder an ein Interview mit Farin denken, in dem er erzählte, dass bei seiner Parallelband "Farin Urlaub Racing Team" für Konzerte geprobt werde... bei Die Ärzte dagegen müsste man, bevor der Tourbus losfährt, in die Runde fragen, ob denn alle ihr Instrument dabei haben.



Die erratische Setliste hatte auch schöne Überraschungen zu bieten, so gab es anscheinend einen Streit der Bandmitglieder, wer auf die gute Idee gekommen war, an diesem Abend "Roter Minirock (vom 1984er Debütalbum "Debil") zu spielen. Hier hörte ich keine Fehler (die ja auch grundsätzlich eher egal sind), Farin witzelte aber hinterher "... und wir haben noch zueinander gesagt 'Nee, den müssen wir nicht  proben!'".

Außerdem kamen wir auch in den Genuss eines Teils von "Ich weiß nicht (ob es Liebe ist)" - aber nur, weil Bela kurz Probleme mit seinem Headset hatte und die Zeit überbrückt werden musste. Es war einer von nur zwei Songs von vor der Trennung der Band 1988, wenn man nicht ein kleines Medley vor "Anastasia" mitzählt, in dem Farin unter anderem "Paul", "Zu spät", "Westerland" und, "Wegen dir" und "Claudia" anspielte. Bei "Vokuhila Superstar" hörten wir zusätzlich die Refrains von "Männer sind Schweine" und "Blumen". Dass auf alle diese bekannten Songs verzichtet wurde, zeigt eindrucksvoll, wie kurios die Songauswahl war.



Für zwei Lieder wechselten Farin und Rod die Positionen und Instrumente - Farin spielte Bass, Rod einmal bei "Dunkel" Gitarre und holte sich dann extra für "Die Banane" ein Keyboard.

Das Set endete (vorerst) mit "Unrockbar", für das wir Publikumsmitglieder eine komplexe Choreographie einüben mussten - wir sollten uns nämlich alle setzen beziehungsweise hinhocken, um dann alle gleichzeitig beim ersten "Unrockbar" aufzuspringen, was Bela und Farin sicherheitshalber vorab mit diversen ähnlichen Wörtern testeten. Nach zwei Stunden Konzert bei einem alterstechnisch eher fortgeschrittenen Publikum war das Hinhocken allerdings keine ganz leichte Aufgabe und wurde auch nicht von allen Besuchern gemeistert.



Natürlich gab es auch Zugaben, sogar drei! Zunächst kehrte Farin allein zurück und spielte "Leben vor dem Tod". Nach "Deine Schuld" und "Langweilig" erklatschten wir eine zweite Zugabe, die dieses Mal Bela (zunächst) allein und mit lustigem Hut und Gitarre eröffnete, er sang "Der Graf".

Der letzte Zugabenteil bot mit "Junge", "Wie es geht" und "Schrei nach Liebe" dann eine Hitdichte, die dazu führte, dass wir uns quasi als Grenze zwischen zwei Moshpits wiederfanden. Ich sah auch zum ersten Mal seit sicher zehn Jahren Menschen beim Crowdsurfen. Nach "Dauerwelle vs. Minipli" und "Gute Nacht" war dann auch endgültig Schluss. Bela erklärte uns für "amtlich gerockt", seine Meinung zu dem Abend war, Die Ärzte seien besser als W.A.S.P. und Iron Maiden zusammen gewesen...



Farin behielt Recht: Nicht zuletzt dank der nicht vorhandenen Belüftung der Stadthalle waren wir nach den drei Stunden völlig am Ende - was auch ein bisschen auf Kosten des Konzertvergnügens ging, denn zwischendurch fragten wir uns durchaus, wie lange wir noch in dieser Hitze und dieser schlechten Luft stehen mussten. Auch die Setliste wies ja wie erwähnt durchaus auch Längen auf. Nichtsdestotrotz sind Die Ärzte eben Die Ärzte, und es war sehr schön, dass das Wiedersehen dieses Mal endlich geklappt hat!


Setliste:

Wer verliert, hat schon verloren
Lied vom Scheitern
Mein Baby war beim Frisör
Geld
Tamagotchi
Der Misanthrop
Noise
Quark
Ich weiß nicht (ob es Liebe ist)  (erste Hälfte)
Vokuhila Superstar
Ist das noch Punkrock?
Achtung: Bielefeld
Nie wieder Krieg, nie mehr Las Vegas!
Die traurige Ballade von Susi Spakowski
Einschlag
Anastasia
Roter Minirock
Sohn der Leere
Mondo Bondage
Dunkel
Die Banane
Wissen
Für uns
Trick 17 m. S.
Doof
Herrliche Jahre
Perfekt
Unrockbar

Leben vor dem Tod (Farin solo)
Deine Schuld
Langweilig

Der Graf
Himmelblau
Hurra

Wie es geht
Junge
Schrei nach Liebe
Dauerwelle vs. Minipli
Gute Nacht

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