Tagelang hatten wir die verschiedensten Wettervorhersagen konsultiert, aber leider waren sich alle einig: Der Festival-Dienstag würde ein nasses Erlebnis werden. So immerhin vorgewarnt zogen wir feste Schuhe an, packten die Regenjacken ein und reisten am späten Nachmittag zum zweiten Mal nach Lokeren, den Pendlerparkplatz und die Busse fanden wir dieses Mal schon ganz routiniert. Wir kamen somit quasi zur gleichen Zeit wie am Vortag auf dem Gelände an, aber an diesem ausverkauften Tag war dennoch merklich mehr los. Es gelang uns aber wieder, uns gute Stehplätze zu sichern, der Regen präsentierte sich zunächst als leichtes Nieseln.
Der erste Musikact dieses "britpoppigen" Festivaltages war Baxter Dury. Der bereits seit 20 Jahren aktive Musiker ist der Sohn von Ian Dury (der wiederum eine Punk- und New Wave-Legende ist). Auf der Bühne fiel aber zunächst seine Keyboarderin und Sängerin Fabienne Débarre ins Auge, die nicht nur ein durchsichtiges Wallekleid, sondern auch eine gewaltige Pelzmütze trug.
Demgegenüber wirkten Dury selbst sowie der Schlagzeuger und Gitarrist geradezu unspektakulär - aber sehr schnell zeigte sich, dass Dury die Jarvis Cocker-Bühnenposenakademie nicht nur besucht, sondern mit Auszeichnung abgeschlossen haben muss. Er machte dramatische Gesten, Ausfallschritte, Yogaübungen und gab einfach mal alles... den Gesang überließ er allein Fabienne, während seine Lieder eher eine Mischung aus Sprechgesang und Monologen waren - ähnlich wie bei The Streets.
Auch zu seinem Outfit hatte Dury sich vorab offenbar viele Gedanken gemacht - zunächst trug er Anzug, dass er dazu auch eine ganze Menge Halsketten anhatte, fiel zunächst kaum auf. Er hatte aber auch extra einen Schal mitgebracht, den er sich - nach Ablegen des Sakkos und irgendwann auch des Hemdes - um Kopf und Bauch wickelte, bevor er später auch noch kurz eine Perücke trug.
Mit dem Sprechgesang an sich konnte ich mit einigen Ausnahmen nicht furchtbar viel anfangen (dafür hätte man sicherlich mehr auf die Texte achten müssen), Dury an sich ist aber natürlich ein auffälliger Charakter. In meiner Phantasie besetzte ich ihn in diversen Filmen als den hochsympathischen Freund des Helden, der immer irgendwelche Schwierigkeiten hat - und dem der Held bei diesem einen großen Projekt helfen soll, dass sämtliche anderen Probleme lösen sollte, das dann aber natürlich furchtbar schief geht.
So ganz einstudiert scheinen die diversen Mätzchen und Sprüche (die ich leider größtenteils nicht verstand) auch nicht gewesen zu sein, denn die Band, insbesondere der Schlagzeuger, mussten einige Male auch lachen.
Das Publikum reagierte insgesamt eher freundlich als begeistert, eine offenbar britische Gruppe in unserer Nachbarschaft jubelte allerdings frenetisch, und ein Superfan ganz vorne konnte die Perücke ergattern, als diese nach kurzem Einsatz ins Publikum geworfen wurde.
Der musikalische Teil des Auftritts war übrigens erstaunlich laut, die Ordner verteilten in den vorderen Reihen fleißig Ohrenstöpsel, die vielfach auch dankbar angenommen wurden.
Setliste:
Leak At The Disco
I'm Not Your Dog
Pale White Nissan
Leon
Slumlord
Crashes
Almond Milk
Oi
Pleasure
Palm Trees
Miami
Cocaine Man
Celebrate Me
(Baxter) These Are My Friends
Nun legte der Regen leider richtig los und variierte zwischen Nieseln und Schütten. Die Umbaupause auf der Bühne beinhaltete mehrmaliges "Herunterkehren" von Wasserpfützen. Das Equipment von Hot Chip wanderte offensichtlich weiter nach hinten als ursprünglich angedacht und wurde mit Handtüchern bedeckt.
Die Musiker zeigten sich durchaus spielfreudig, sie wechselten häufig die Instrumente und tanzten engagiert hinter dem Keyboard oder mit umhängender Gitarre. Für "Freakout/Release" kam sogar ein zusätzlicher Musiker auf die Bühne. Gesagt wurde dabei so gut wie nichts. Mein Freund mahnte an, dass sein Lieblingslied "Boy from School" nicht gespielt wurde. Ein wenig hatten wir auch mit der Livepremiere des am Vortag veröffentlichten neuen Songs "Fire of Mercy" gerechnet, die aber ebenfalls nicht stattfand.
Mir gefiel der Auftritt angesichts der eingängigen Songs und der ausgelassenen Stimmung auf der Bühne durchaus gut - allerdings konnte er nicht komplett davon ablenken, dass es im Publikum, auf das Schauer um Schauer niederprasselte, immer noch ungemütlicher wurde. Erstaunt beobachtete ich gelegentlich einen jungen Mann vor uns, der das Ganze ohne Regenschutz im kurzärmeligen Hemd durchstand und sich davon auch nicht groß stören ließ. Ich dagegen hatte auch mit Regenjacke bald wirklich keine Lust mehr.
Setliste:
Down
Flutes
One Life Stand
Eleanor
Freakout/Release
Ready for the Floor
Melody of Love
I Feel Better
Hungry Child
Over and Over
Nach dem Ende des Hot Chip-Auftritts hieß es wieder warten, wobei so schien, als würde der Rgeen langsam nachlassen. Dennoch musste die Bühne wieder einige Male von Wasserseen befreit werden. Für Unterhaltung in der Wartezeit sorgte ein riesiger Blur-Schriftzug, der nun erst auf die Bühne getragen und an diversen Seilen befestigt wurde, um dann leuchtend hoch darüber zu hängen. Während alle anderen Performer bislang dieselbe große LED-Wand hinter der Bühne benutzt hatten, um wahlweise Livebilder des Auftritts, Videos oder auch nur ihr Albumcover zu zeigen, hatten Blur drei quadratische Extra-Leinwände und turmartige Lichtsäulen dabei.
Pünktlich um 22:15 Uhr ging es dann los, und der Regen verringerte sich zum Glück weitgehend zu einem gelegentlich anschwellenden Tröpfeln. Blur betraten die Bühne und gaben als erstes einen Song zum Besten, den ich überhaupt nicht kannte: "St. Charles Square" vom neuen Album "The Ballad of Darren". Während sich Damon Albarn, der mittlerweile Brille trägt, für einen Anzug entschieden hatte, trug Alex James Jogginghose und wirkte auch sonst höchst entspannt. Graham Coxon (der tags zuvor auf der kleineren Bühne bereits einen Auftritt seines anderen Projektes The Weave absolviert hatte) und Dave Rowntree lagen Outfit-technisch irgendwo dazwischen.
Beim zweiten Song "There's no other Way" konnte dann auch ich mitreden... Albarn erklärte hinterher, dass sich überall, wo Blur heutzutage hinreisten, alle über das Wetter beschwerten - für sie als Engländer sei das alles aber völlig normal, und die Welt würd einfach englischer - was angesichts des Brexits ironisch sei. Das nun folgende "Popscene" kündigte er an als "for everyone who was there the first time around" (... dabei ist "There's no other way" eigentlich älter) und brachte ein Megaphon zum Einsatz.
Vor "Tracy Jacks" wollte sich Albarn eigentlich auf die Treppe setzen, die auf einen erhöhten Bereich vor der Bühne führte, stellte aber fest, dass er dort einen nassen Hintern bekam - und fragte ironisch, ob es heute etwa geregnet hätte. Er ging stattdessen direkt auf den Gang mitten im Publikum, wo er sich auf die Balustrade stellte und den Song hier, von Ordnern festgehalten, zum Besten gab.
Als etwas später, nach "Villa Rosie", der Regen wieder anschwoll, behauptete Albarn, diese Art Regen hieße im Angelsächsischen "Keith", wie auch sein Vater. Bei "End of a Century" versemmelte Alex James (der als einziges Bandmitglied außerhalb von Blur keine Musik macht) den Anfang, so dass er vor einem Neustart von Albarn erst getadelt und dann geknuddelt wurde.
"Parklife" wurde zum Leidwesen meines Freundes nicht von Baxter Dury vorgetragen, der den darin enthaltenen Phil Daniels-Monolog sicher hervorragend zum Besten hätte geben können. Einen überraschenden Gastauftritt gab es aber direkt im Anschluss bei "To The End", das im Original Passagen auf Französisch enthält, die von Lætitia Sadier gesprochen werden. Albarn fragte ins Publikum, ob jemand sich zutraue, diese Sätze richtig darzubieten. Ein Besucher namens Maxim meldete sich und sprach die Passagen mit perfektem Timing, aber sichtlicher Aufregung. Als er darüber hinaus dann auch begann, beim Refrain mitzusingen, hielt Albarn schnell die Hand auf sein Mikrophon um ihn zu stoppen und musste dann diverse Male lachen - ihm bereitete dieses Arrangement sichtlich viel Spaß, und auch Maxim wurde zum Abschied herzlich umarmt - und vom Publikum bejubelt.
Zum nun folgenden "Barbaric" setzte sich Albarn ans Klavier, um danach für "Girls & Boys" wieder auf eine der Bühnenabsperrungen zu steigen - während er sein Jacket schon lange vorher abgelegt hatte, wechselte er nun schnell in einen Blouson und sah nun deutlich britpoppiger aus.
Auf den Setlisten, die wir vorab gesehen hatten, waren jeweils vier Zugaben vermerkt (darunter auch "Girls & Boys"), aber Blur hatten sich an diesem Abend offenbar entschieden, diese gleich ins reguläre Set einzubauen, und überschritten dennoch leicht ihre Spielzeit - quasi als Ersatz für mein einziges anderes Blur-Konzert vor zehn Jahren, das unerwartet kurz ausgefallen war.
Recht spät im Set hörten wir auch "Barbaric" - mit dem noch später folgenden "The Narcissist" einer von drei neuen Songs des Abends. Blur hatten sich anders als Placebo am Vorabend entschieden, ihr erst kürzlich erschienenes neues Album zugunsten der großen Hits in den Hintergrund treten zu lassen. Und so endete der Abend dann mit "The Universal" von 1995.
Ich hatte ja im ersten Beitrag erwähnt, dass am Vorabend bei Placebo das Fotografieren und Filmen komplett verboten gewesen war. Bei Blur schien es dagegen keine einheitlichen Regelungen zu geben, oder die Ordner waren einfach verwirrt: Wieder wurde mein Freund aufgefordert, das Fotografieren mit der doch eigentlich zugelassenen Kamera zu unterlassen. Noch seltsamer: Während parallel geschätzt 100 Personen unbehelligt Handyvideos drehten, wurde das einer einzelnen Besucherin vor uns von einem der Ordner strikt untersagt.
Die Bandmitglieder machten an diesem Abend alle einen gut gelaunten und spielfreudigen Eindruck, es wurde viel miteinander gescherzt und man versteht sich offenbar bestens - was es diesem Auftritt auch leichter machte, große Publikumsreaktionen hervorzurufen, als das bei Placebos distanzierterer Herangehensweise der Fall gewesen war. Mit gefielen dennoch beide Headliner gut.
St. Charles Square
There's No Other Way
Popscene
Tracy Jacks
Beetlebum
Trimm Trabb
Villa Rosie
Coffee & TV
End of a Century
Country House
Parklife
To the End
Barbaric
Girls & Boys
Advert
Song 2
This Is a Low
Tender
The Narcissist
The Universal
Gegen Mitternacht machten wir uns wieder auf den Weg zur Haltestelle der Shuttlebusse, die den Großteil der Besucher zum Parkplatz fahren sollten. Bereits am Vorabend hatten wir erlebt, wie diese zunächst im Verkehr stecken geblieben waren: Obwohl die Organisatoren auf der Website für Anreisen per Auto nur das Park & Ride-Prinzip erwähnt hatten, wussten Ortskundige offensichtlich, dass es in der Nähe des Geländes durchaus auch einige öffentlich nutzbare Parkplätze an der Straße gab. Diese Autos überlasteten nun den Verkehr - an diesem ausverkauften Festivaltag noch deutlich mehr als an dem davor.
Es gelang uns noch, relativ schnell in einen der vorfahrenden Busse zu steigen, dieser blieb aber mit allen anderen Kraftfahrzeugen dieses Mal komplett stehen. Für die Fahrt zum Parkplatz, die normalerweise zehn Minuten gedauert hätte, brauchten wir so letztlich eine Stunde. Hier kamen aber nun viele Busse, die ja alle im selben Stau gestanden hatten, quasi gleichzeitig an - was wiederum zum nächsten Verkehrschaos führte, weil nun alle Autofahrer gleichzeitig den Parkplatz verlassen wollten. Beide Verzögerungen führten letztlich dazu, dass wir erst gegen 3 Uhr unsere nur zwanzig Minuten entfernte Pension erreichten.
Nachdem das Festival ja wie im ersten Beitrag erwähnt bereits seit den 1970er Jahren stattfindet, verwundert es etwas, dass es keine bessere Regelung für den Verkehr gab. Es wäre ja beispielsweise möglich, das Parken von PKWs auf den öffentlichen Parkplätzen rund um das Festivalgelände weitgehend zu unterbinden und so das Durchkommen der Busse zu erleichtern. Auch der eine oder andere Verkehrspolizist an den Ampeln der ansonsten ausgestorbenen Stadt hätte die Lage sicherlich stark verbessert.
Mit der nervigen Rückfahrt als letztem Punkt endet der Bericht nun eher negativ, dabei hat das Festival trotz Regen (der zumindest nicht so stark war wie angekündigt) durchaus Spaß gemacht und war auch, abgesehen vom Verkehrschaos, sehr gut organisiert.
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