Bereits im Februar hatten mein Freund und ich Tickets für den zweiten Tag von Rock en Seine gekauft - ein Festival in der französischen Hauptstadt, das nicht nur namentlich Parallelen zu Rock in Roma aufweist, wo wir sogar schon zweimal gewesen waren: Bei beiden Veranstaltungen handelt es sich um "Festivals" vor den Toren einer Großstadt, die nicht darauf ausgelegt sind, das man zwingend mehrere Tage besucht, und Übernachtungen auf einem Zeltplatz sind überhaupt nicht vorgesehen. Stattdessen richten sich die einzelnen Tage mit ihren Headlinern an durchaus unterschiedliche Geschmäcker. Dabei ist Rock en Seine, das bereits seit 2003 existiert, noch Festival-ähnlicher, denn anders als in Rom gibt es ein durchaus großes Lineup und mehrere Bühnen, die teilweise parallel bespielt werden. "Unser" gebuchter Tag wandte sich mit den Headlinern Kraftwerk und Nick Cave an ein eher älteres Publikum, wobei dasselbe nicht unbedingt für die anderen Bands des Tages galt - was vielleicht auch erklärt, warum es einer von zwei nicht ausverkauften Tagen war.
Der Veranstaltungsort im Park des Schloss Saint-Cloud westlich von Paris entpuppte sich bei unserem Eintreffen als schicke Anlage mit Springbrunnen und Skulpturen. Nicht gerechnet hatten wir - zumal "unser" Tag wie gesagt nicht ausverkauft war - mit den vorhandenen Menschenmassen: Das Festival erreichte an seinen vier Tagen um die 100.000 Zuschauer und ist somit größentechnisch etwa mit dem Best Kept Secret in den Niederlanden vergleichbar.
Ebenfalls wie beim Best Kept Secret hatte man für das Bezahlen von Speisen und Getränken ein bargeldloses System eingeführt (und somit auf Marken oder ähnliches verzichtet), für das ich mir bereits im Vorfeld eine Paypal-ähnliche französische App installiert hatte. Alternativ konnte man vor Ort auch Geld auf sein Festivalbändchen laden, das mit einem QR-Code ausgestattet war. Dieser verschaffte den Besuchern, die für Zugang zum "Golden Circle", einem Bereich direkt vor der Bühne, bezahlt hatten (wie wir), auch hier den Zutritt, ebenso auch zum VIP-Bereich (den wir nicht mitgebucht hatten).
Das Festivalgelände war ausgesprochen langgezogen, an beiden Enden befanden sich jeweils die Hauptbühnen, so dass man für den Weg über das volle Gelände von Bühne zu Bühne etwa zehn Minuten rechnen musste. Irgendwo müssen auch noch drei kleinere Bühnen versteckt gewesen sein, die ich aber gar nicht zu Gesicht bekommen habe. Auf dem Weg zwischen den Bühnen befanden sich jede Menge Stände, teils für Essen und Getränke (hier zeigte sich, dass Pfefferminztee bei französischen Festivals eine deutlich größere Rolle zu spielen scheint als in Nordeuropa), teils wurden sie von Sponsoren betrieben (Dr. Martens, Firestone) oder machten Werbung für gesellschaftliche Themen (Obstkonsum, die EU, Respekt für Frauen). Außerdem gab es Ruheplätze für Festivalbesucher, wobei besonders eine Wiese mit Booten und Hängematten ins Auge stach, und Wasserstellen, an denen man sich kostenlos Trinkwasser besorgen konnte.
Bei unserer Ankunft konnten wir den Einlass mit minimaler Wartezeit passieren, das erste Konzert begann dann auch pünktlich um 15:45 - und wir bekamen insgesamt den Eindruck, das hier alles gut und effizient organisiert worden war.
Das Programm der zweitgrößten Bühne "Scène Cascade" eröffnete Jehnny Beth, von der ich dachte, ich würde sie nicht kennen - bis mein Freund mich daran erinnerte, das wir sie 2016 mit ihrer damaligen Band Savages beim Down The Rabbit Hole Festival gesehen hatten. Ihrem optischen Stil ist die Französin treu geblieben, sie trägt ihre kurzen Haare weiterhin nach hinten gegelt und dazu roten Lippenstift und Pumps, an diesem Tag trat sie in einem schwarzen kurzen Rock auf und trug dazu ein weißes Shirt, auf dem "Badasse" stand.
Der musikalische Stil hat sich gegenüber Savages allerdings durchaus gewandelt: Statt Postpunk geht es nun eher in Richtung Industrial. Sie hatte einen Bassisten dabei, der dank seiner Blässe und der verwuschelten Haare etwas an Edward mit den Scherenhänden erinnerte. Am Keyboard wurde sie von einer sehr körperbetont gekleideten jungen Frau unterstützt - beide spielten ihre Instrumente mit vollem Körpereinsatz.
Beth hat 2020 das Soloalbum "To Love Is To Live" veröffentlicht, mit dem sie vermutlich bislang nicht häufig live auftreten konnte - insofern überraschte es nicht, dass sechs der gespielten Lieder davon stammten, hinzu kamen der unveröffentlichte Song "God Is That You" und ein Cover von Nine Inch Nails "Closer", das sich stiltechnisch sehr gut in die eigenen Songs einfügte.
Ich bin musikalisch nach wie vor kein Jehnny Beth-Fan, es ist jedoch unstrittig, dass sie eine tolle Bühnenpräsenz hat und die größtenteils begeisterte Menge völlig im Griff hatte: Die Pumps tauschte sie schon bald gegen bewegungsfreundlichere Sneaker, das T-Shirt wurde irgendwann abgelegt (sie trug darunter ein schwarzes Bustier). Gemeinsam mit ihren Mitmusikern verausgabte sie sich völlig zu den Liedern, animierte die Zuschauer bei "More Adrenaline" zum Springen und ließ sich bei zwei Songs am Bühnenrand von Ordnern stützen. "Flower" sang sie als Duett mit der Keyboarderin, die dafür nach vorne kam - beide räkelten sich dazu lasziv und suggestiv auf der Bühne.
Setliste:
Heroine
We Will Sin Together
More Adrenaline
God Is That You
How Could You
Closer (Nine Inch Nails Cover)
Flower
New World
I'm The Man
Wir machten uns im Anschluss zügig auf den langen Weg zum anderen Ende des Geländes und sahen unseren ersten Act auf der Bühne "Grande Scène": Aldous Harding hatte dennoch bereits zwei Lieder gespielt, als wir den "Golden Pit", den abgetrennten Bereich direkt vor der Bühne, erreicht hatten. Dass diese beiden größten Bühnen nahtlos bespielt wurden, ist bei Rock En Seine Teil des Konzepts - es führt blöderweise dazu, dass man stets entscheiden muss, ob man bei Acts, die hintereinander auftreten, lieber das Ende des einen oder den Anfang des nächsten verpassen möchte.
Aldous Harding, die ich vorab gar nicht gekannt hatte, heißt im bürgerlichen Leben Hannah Sian Topp und stammt aus Neuseeland. Ihr Musikgenre bezeichnet sie als "Gothic Folk". Bei Rock on Seine war sie von vier Musikern umgeben. Sie selbst saß oder kauerte auf einem Stuhl, dessen Beine verkürzt worden waren, so dass sie eine Art Schneidersitz Zustande brachte, wenn sie selbst Gitarre spielte. Bei Songs ohne eigenes Gitarrenspiel sang sie meist im Stehen und nahm dazu das eine oder andere Percussion-Instrument zur Hand, in einem Fall auch eine Tasse, die sie als Rhythmusinstrument einsetzte.
Die in ihrer Gestik und Mimik eher statische junge Frau trat in einer Art Kimono-Hosenanzug auf. Teils schien sie sich wie in Zeitlupe zu bewegen und schaute insgesamt häufig so streng drein, dass mein Freund anerkennend sagte, sie wäre sicher eine gute Lehrerin geworden. Das stand im krassen Kontrast zur eben gesehenen, höchst agilen Jehnny Beth. Hier verging teils einiges an Zeit zwischen den einzelnen Songs, so schaffte Hardings dann insgesamt auch nur 9, von denen 6 von ihrem aktuellen Album "Warm Chris" stammten.
Gesprochen wurde überhaupt nicht, erst gegen Ende des Sets reagierte die Künstlerin auf den grespendeten Applaus nach einem Lied mit "Thank you, Hello" - um sich ein Lied später mit "Thank you, goodbye" gleich wieder zu verabschieden.
"Exzentrisch" ist ein Wort, das gerne in Berichten zu der Künstlerin fällt, und das auch uns durch den Kopf ging. Dennoch ein interessanter Auftritt, der allerdings auf der großen Bühne etwas verloren wirkte.
Setliste:
Tick Tock
Fever
Treasure
Fixture Picture
Lawn
Passion Babe
Old Peel
Leathery Whip
Natürlich liefen wir nun schnurstracks zurück zur kleineren Hauptbühne, wo das Set von DIIV bereits begonnen hatte. Das Quartett aus New York um Songwriter und Sänger Zachary Cole Smith hat sich nach dem Nirvana Song „Dive“ benannt, dementsprechend gab es einen energetischen Mix aus Indierock und Shoegaze. 9 Songs wurden gespielt, darunter 6 aus dem immer noch aktuellen Album „Deceiver“, mit dem besten Lied („Blankenship“) zum Schluss.
Der schmale und lang gestreckte Zuschauerbereich hatte sich nun im Gegensatz zum ersten Konzert des Tages von Jehnny Beth sehr gut gefüllt, so dass wir nach dem Ende des Auftritts von Aldous Harding gar nicht mehr in die Nähe der Bühne kamen und einen Großteil des Sets aus größerer Entfernung betrachteten.
Setliste:
Skin Game
Between Tides
Doused
Take Your Time
Taker
Like Before You Were Born
Horsehead
Blankenship
Weiter ging es auf der Hauptbühne mit The Limiñanas. Auch hier nahm ich ohne Vorkenntnisse zu der Band teil, nur dank meines Freundes wurde ich noch schnell darüber informiert, dass die Band eigentlich nur aus Lionel (Bass) und Marie Limiñana (Schlagzeug) besteht, die im Zentrum von diversen anderen Musikern auftraten - alle in schwarz gekleidet und mit ansonsten höchst individuellem Aussehen.
Den Auftakt machte dann gleich einmal ein 7-minütiges Instrumentallied zwischen Psychedelic und Krautrock, die Einblendungen auf der LED-Wand im Hintergrund mit Schriftzügen, Bildern und Kaleidoskopmustern verstärkten den Eindruck, dass man hier mit oder ohne Unterstützung durch eingenommene Substanzen tief in die eingängig-repititive Musik eintauchen sollte - was mir nur begrenzt gelang.
Neben den langen Instrumentalpassagen, in die man sich immer wieder verlor, gab es auch "richtige" Songs, die die Zusatzmusiker abwechselnd als Leadsänger performten - auf Französisch, Englisch und Spanisch und mit viel Enthusiasmus. Während meistens der Keyboarder und der Gitarrist gesanglich ans Ruder durften, trat für das Cover "Teenage Kicks" der Zusatzkeyboarder / -gitarrist nach vorne und verstärkte mit einer begeisterten, aber stimmlich zweifelhaften Gesangsperformance den Eindruck, dass hier alle einmal nach vorne duften - zu unserer Überraschung galt das beim letzten Lied auch für Marie Limiñana selbst, die vom Schlagzeug aufstand und sang.
Eine andere Coverversion stammte passenderweise von der Krautrock-Band Can, deren Name dazu groß auf der LED-Wand eingeblendet wurde. Weitere Cover kamen häufig von Bands und Nebenprojekten der Limiñanas selbst.
Überraschend war, dass auch bei diesem Set quasi nicht zum Publikum gesprochen wurde - dabei kommt die Band doch aus Südfrankreich.
Setliste:
Last Picture Show (L’Épée cover)
Istanbul Is Sleepy
Dimanche
Down Underground
Crank (The Beach Bitches cover)
One of Us, One of Us, One of Us...
Que Calor!
Mother Sky (Can cover)
Steeplechase
Teenage Kicks (The Undertones cover)
Je m'en vais / The Train Creep A-Loopin
Nun gönnten wir uns endlich eine Pause, die wir dazu nutzten, meine extra eingerichtete Bezahl-App dafür einzusetzen, uns vegetarische Burger und Pommes zu kaufen - für stolze 14 Euro je Portion. Nachdem wir auch kurz die Nichte meines Freundes treffen konnten, die mit ihrer Mutter für den Hauptact angereist war, ging es auch schon weiter - verpasst hatten wir in der Zwischenzeit James Blake, nun sahen wir London Grammar.
Wenn ich geschrieben hatte, dass Aldous Harding auf der großen Hauptbühne etwas verloren gewirkt hatte, ist das kein Vergleich zum Trio aus - wer hätte es gedacht - London, das erst recht aussah, als habe es sich verlaufen und wisse selbst nicht so recht, was es nun anstellen sollte. Das Set der drei wirkte geradezu leblos, dabei sang Hannah Reid die melancholisch-melodiösen Songs durchaus gut.
"Wasting My Young Years" von 2013 war dabei in Frankreich ein Hit und erreichte hier Platz 2 der Singlecharts - noch bevor das Trio in seinem Heimatland Erfolg hatte. Vielleicht auch deshalb versicherte Dominic 'Dot' Major auf Französisch, wie sehr die Band Frankreich liebe. Musikalisch etwas spannender wurde es bei den Liedern, für die er vom Keyboard ans Schlagzeug wechselte - dort hätte er in unseren Augen mehr Zeit verbringen dürfen.
Setliste:
Missing
Hey Now
Lord It’s a Feeling
How Does It Feel
Baby It's You
Hell to the Liars
Metal & Dust
So weit, so gut: Der Hauptgrund für unseren Besuch im Park waren aber Kraftwerk (mein Freund) und Nick Cave (ich). Diese beiden Auftritte bekommen ihren eigenen Bericht.
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