Die Einstürzenden Neubauten gibt es seit mehr als 40 Jahren, ich habe mich in all dieser Zeit aber nie so richtig für ihre Musik interessieren können. Dabei hatte sich Gründer und Gesicht der Band Blixa Bargeld einst darüber beklagt, dass Depeche Mode dasselbe Berliner Studio wie seine Band benutzt hätten, und dass all die innovativen industriellen Geräusche in Liedern wie "People Are People" in Wirklichkeit bei den Neubauten geklaut wurden.

Ob meine Lieblingsband wirklich physisch bei Einstürzende Neubauten gestohlen hat, weiß ich nicht, der Einfluss war damals in jedem Fall immens. Und dennoch konnte ich mich für das Vorbild nie so recht erwärmen, mir fehlte wohl die poppig-gefällige Umhüllung - die Musik der Neubauten war immer eher schwere Kost und ist es bis heute geblieben. 

Unsere Pragreise für den Herbst inklusive Besuch des Nick Cave-Konzertes war bereits geplant, als mein Freund herausfand, dass auch Einstürzende Neubauten ebenfalls einen Konzerttermin für Prag bekannt gegeben hatten, und das ausgerechnet an meinem Geburtstag. Aus bereits genannten Gründen hatte ich wenig Interesse an diesem zusätzlichen Konzertbesuch, dennoch ließ ich mich schlussendlich überreden: Es war nicht so, als hätte ich andere Pläne für diesen Abend gehabt, und mein Freund hatte die Neubauten noch nie live gesehen. Lieber wäre ich allerdings ehrlich gesagt zu Take That gegangen, die man zwei Abende zuvor ebenfalls in Prag hätte sehen können.

Irgendwie passte es auch, dass ausgerechnet Nick Cave und Einstürzende Neubauten an aufeinander folgenden Abenden in Prag auftraten: Blixa Bargeld war immerhin bis 2003 Mitglied der Bad Seeds und ein wichtiger Einfluss auf die Musik der Band. Als wir Cave 2020 im Rahmen seiner "Conversations with Nick Cave"-Tour in Wiesbaden sahen, erzählte er als Antwort auf eine Zuschauerfrage, es sei nicht leicht gewesen, ohne Bargeld zurecht zu kommen, dieser habe bei musikalischen Experimenten immer eine klare Meinung gehabt und entweder "It's good!" oder "It's shit" gesagt.

Zumindest damals klang es so, als hätten die beiden keinen Kontakt mehr. Beim selben Event erzählte Cave, dass er bei Konzerten häufig Fan-Portraits von sich selbst geschenkt bekommt und diese gerne in dem Hotelzimmer, das er gerade bewohnt, an die Wand hängt - und dann bei seiner Abreise zurück lässt. Mein Freund und ich überlegten scherzhaft gemeinsam, ob Blixa Bargeld wohl in seinem Prager Hotelzimmer von einem handgemalten Nick Cave-Porträt empfangen werden würde...

Schon unsere Anfahrt zur O2 Arena am Vorabend war ein Klacks gewesen, zum Neubauten-Konzert konnten wir nun sogar vom Hotel aus zu Fuß gehen. Das Forum Karlín entpuppte sich als offenbar brandneu renoviertes Kulturzentrum - deutlich kleiner als die Arena des Vorabends, aber keineswegs winzig. Dass ich mich nicht sonderlich gut mit der Musik der Einstürzenden Neubauten auskenne, zeigte sich auch in meiner Überlegung, dass es für nicht deutschsprachige Zuschauer doch sicherlich langweilig sein müsste, dieser deutschsprachigen Band zuzuhören.

Am Vorabend hatten wir in der Wartezeit auf Nick Cave ein wenig die anderen Konzertbesucher beobachtet und überlegt, wen wir wohl an diesem Abend wiedersehen würden. Immerhin einen Mann konnten wir zweifelsfrei identifizieren. Insgesamt war das Publikum überaus divers, sowohl im Hinblick auf die Altersklassen als auch, was modische Präferenzen betrifft.

An diesem Abend war keine Vorband vorgesehen. Als der angekündigte Konzertbeginn verstrichen war, begannen einige Zuschauer sofort, zu pfeifen - dieses Verhalten hatte uns schon am Vorabend etwas verwundert. Offenbar legt man in Tschechien großen Wert auf pünktliche Konzertanfänge. Auch zwischendurch wird mehr gepfiffen als bei uns.

Die Neubauten haben neben Bargeld noch ein weiteres Gründungsmitglied im Lineup, den Percussionist N.U. Unruh. Alexander Hacke ist ebenfalls fast seit Beginn dabei, wechselte allerdings irgendwann von der Gitarre zum Bass. Die verbleibenden Bandmitglieder sind auch schon seit 1997 dabei, nur der Keyboarder Felix Gebhardt begleitet die Band erst seit 2014 und ohnehin nur bei Liveauftritten.

Blixa Bargeld ist mittlerweile Mitte 60 und offenbar nicht in der allerbesten gesundheitlichen Verfassung. Er humpelte an einem Stock auf die Bühne, den er allerdings für den eigentlichen Auftritt beiseite legte. Er trug einen dunklen Anzug mit Weste, wobei alle Teile mit Nähten übersäht waren und so aussahen, als seien sie bei einem Schneider noch in Arbeit - nur, dass die Fäden silbern schimmerten. Sie glitzerten allerdings weit weniger als Bargelds Lidschatten.

Blixa Bargeld konzentrierte sich bei dem Auftritt auf den Gesang (sowie seltsam hohe Schreie) und überließ die Instrumente seinen Mitmusikern, nur am Ende von "Grazer Damm" ließ er eine Handvoll Metallstäbe fallen. Die meiste Zeit hielt er in seiner rechten Hand ein kleines Gerät, aber weder mein Freund noch ich konnten eruieren, was es damit auf sich hatte.

Was meine Verwunderung über das Interesse mehrheitlich nicht deutschsprachiger Konzertbesucher an der Musik der Neubauten angeht: Es gibt zum einen von manchem Liedern eine englischsprachige Version, andere sind von Haus aus in dieser Sprache. Bargeld selbst sprach ebenfalls auf Englisch zum Publikum, mit so starkem deutschen Akzent, dass ich dahinter Absicht vermute - er war ja immerhin 20 Jahre lang bei den Bad Seeds.

Die Musik der Einstürzenden Neubauten ist in den letzten Jahren ruhiger geworden, allerdings dabei nicht weniger experimentell. Bei eigentlich allen Liedern passierten auf der Bühne spannende Dinge, weil von den vielbeschäftigten Stage Hands immer wieder selbstgebaute Instrumente auf die Bühne gebracht wurden und zum Einsatz kamen - manches stand auch auf der Bühne, so dass man gespannt abwarten konnte, wann es benötigt würde und wie das wohl klingen würde.

Ebenfalls bei "Grazer Damm" wurden Rhythmen auf einem Einkaufswagen geschlagen (offenbar ein klassisches Neubauten-Instrument), bei "Möbliertes Lied" kam eine drehende Konstruktion zum Einsatz, die aus Teilen von Plastikflschen zu bestehen schien. Ein andermal wurden Benzinkanister für Percussions verwendet, dann eine blaue Plastiktonne, dann kamen sich drehende Metallräder zu ihrem Auftritt, bei einem weiteren Lied wurden drei Röhren mit einem Kompressor verwendet. Einmal wurde das Schlagzeug mit einer Bohrmaschine bearbeitet. Es gab auf der Bühne also immer etwas Interessantes zu sehen und zu hören.

Was die Verwendung ungewöhnlicher Instrumente angeht, beteiligten sich alle Musiker, auch der Gitarrist Jochen Arbeit fand immer wieder neue Gegenstände, mit denen er seinem Instrument Töne entlocken konnte, zum Beispiel einen kleinen Propeller. Alexander Hacke zählte alle Lieder ein, spielte aber einmal auch Gitarre und trommelte bei einem anderen Lied mit. Nur der Keyboarder, der ja auch kein echtes Bandmitglied ist, beteiligte sich nicht an den musikalischen Spielereien - wobei die Percussionisten Unruh und Moser die ungewöhnlichsten Konstruktionen nutzten.

Die Setliste der aktuellen Tournee ist immer gleich (mein Freund schlug die Formulierung "in Metall gefräst" vor). Blixa Bargeld übernahm die Kommunikation mit dem Publikum und erklärte etwa zu "Wedding", dass es sich um den Berliner Stadtteil handele und nicht etwa um ein Hochzeitslied. Nach "Sonnenbarke" stellte er anerkennend fest, dass die Performance besonders gut gelungen war ("Dit war jut"), zu "Trilobiten" hatte er gleich mehrere Dinge zu sagen: 1986 durften die Einstürzenden Neubauten bei der Weltausstellung in Vancouver auftreten, und die Organisatorin schenkte Bargeld ein Trilobiten-Fossil mit dem Kommentar, diese Spezies seit älter als das das Konzept von Geschlechtern. Das wiederum brachte ihn darauf, seinen Sohn zu erwähnen, der ursprünglich als Tochter auf die Welt kam.

Der Text von "Gesundbrunnen" wurde von Neubauten-Fans beeinflusst. Bargeld benötigt für die Improvisationen, die den Songs zugrunde liegen, Texte, und bat deshalb um Beschreibungen der Unterseiten von hässlichen Teppichböden - was nach wie vor im Text reflektiert wird.

Auch während des Auftrittes meinten ein oder mehrere Zuschauer, ihrer Begeisterung oder vielleicht auch dem Gegenteil durch Pfiffe Ausdruck verleihen zu müssen, was Bargeld wohl verärgerte (es war tatsächlich eher nervig). Erst kommentierte er noch humorvoll, als ein Pfiff ihn bei einer Erklärung zu den den Lieder zugrunde liegenden Improvisationen unterbrach und meinte, auf diesem Pfiff könne man nun wirklich keinen Song basieren lassen - und bei einem zweiten, das sei eine andere Note. Als dann noch ein Zwischenruf kam, meinte er recht aggressiv "I don't speak Czech!", was angesichts des Auftritts in Prag etwas unhöflich anmutete (es ist ja nicht vermessen, sich im eigenen Land in der Landessprache zu äußern), aber vermutlich der Genervtheit geschuldet war.

Der Auftritt endete mit einer gemeinsamen Verbeugung nach "How Did I Die?", es folgte aber noch eine aus vier Liedern bestehende Zugabe. Zu "Besser isses" erklärte Bargeld, er habe während der Pandemie für Patricia Kaas auf deren Wunsch hin ein Liebeslied geschrieben, sie habe dann später auch um ein Trennungslied gebeten, das die Basis für "Besser isses" ("Ich ohne dich / Du ohne mich /Besser isses") bildete. Da Kaas bislang keinen der Songs aufgenommen habe, nutze er diesen jetzt eben selbst.

Das Konzert endete mit einer Bandvorstellung von Alexander Hacke zum Schluss-Song, Bargeld stellte sich dabei selbst vor. Ich war überrascht, wie unterhaltsam das Konzert dank all der lustigen Instrumente und auch der Erklärungen gewesen war. Die Setliste umfasste übrigens nur Lieder, die seit 2007 geschrieben wurden. Eine aus dem Publikum zugerufene Bitte, "Feurio" zu spielen, hatte Bargeld abweisend mit "That song was written before you were born" quittiert.

Setliste: