Relativ früh dieses Jahr fiel der Entschluss, im Oktober nach Prag zu reisen. Nick Cave hatte eine Welt-Tournee angekündigt, und die einzige für uns in Deutschland erreichbare Station wäre Oberhausen gewesen, noch dazu unter der Woche. Dann doch lieber Herbstferien in der "goldenen Stadt", die weder mein Freund noch ich vorher besucht hatten.
Ich meldete mich extra für den Sonder-Vorverkauf an, zu dem nur Newsletter-Empfänger Zugang erhielten, und kaufte uns auch gleich zum Verkaufsstart Tickets für den "golden circle" direkt vor der Bühne. Ganz so sehr hätte ich mich nicht beeilen müssen, denn tatsächlich war das Konzert letztlich nicht ausverkauft (der "golden circle" aber vielleicht schon). In Berlin hatte es kurz vor dem dortigen Zusatzauftritt (der erste war ausverkauft gewesen) sehr günstige Angebote für vorher nicht verkaufte Tickets gegeben - ob das in Prag auch so war, weiß ich nicht.
Wenn man bereits Ende März eine Reise für Oktober bucht, hat man zwischendurch noch viel Zeit, Details zu vergessen - und so waren wir dann freudig überrascht, als wir vor Ort feststellten, dass wir unser Hotel offenkundig recht sorgfältig nach der Lage ausgewählt hatten: Sowohl die Innenstadt als auch die O2 Arena waren jeweils nur drei U-Bahnstationen entfernt, und die Bahn fuhr uns auch auch quasi vom Hotelausgang zum Arena-Eingang. Die Einlasskontrolle erwies sich als anders als in Deutschland gewohnt, Konzertbesucher durchliefen nämlich einen Flughafen-ähnlichen Kontrollbereich.
Vor Ort hatten sich engagiertere Fans als wir bereits im Bereich direkt vor der Bühne eingefunden, so dass wir nicht ganz nach vorne konnten - dennoch hatten wir eine gute Bühnensicht und nun Zeit, uns umzusehen. Der Name "O2 Arena" hatte uns unwillkürlich an die gleichnamige Halle in London denken lassen, weshalb wir etwas noch größeres erwartet hatten - es handelt sich um ein Eishockeystadion mit etwas kleinerem Fassungsvermögen (18.000) als die Kölner Lanxess-Arena. Während sich die Stehplätze nach und nach füllten waren die Ränge noch weitgehend leer, als die Vorband The Murder Capital mit ihrem Auftritt begann.
Bei seiner Welttournee wird Herr Cave von unterschiedlichen Bands begleitet, während wir in Deutschland an dieser Stelle Dry Cleaning gesehen hätten, waren es nun in Prag The Murder Capital, eine Post-Punk-Band aus Dublin. Das männliche Quintett betrat nun die Bühne - sein Equipment war in dem recht kleinen Bereich vor dem Vorhang aufgebaut worden, hinter dem sich der Hauptteil der Bühne befand.
Ob es nun die relative Leere der Halle war, das am Anfang nicht riesige Interesse des bereits vorhandenen Publikums oder den Herren sonst etwas über die Leber gelaufen war: Besonders glücklich wirkten sie auf jeden Fall nicht. Sänger James McGovern, der in seine Haare eine Art Leopardenmuster gefärbt hatte, versuchte gelegentlich, mit "kommt schon"-Gesten das Publikum anzufeuern, wirkte dabei aber eher genervt als motivierend.
Musikalisch war ich zu Beginn des Sets geradezu entsetzt: Es mag zum Teil an meinen (lautstärketechnisch durchaus benötigten) Ohrenstöpseln gelegen haben, aber die Musik wirkte auf mich dröhnend basslastig und musikalisch auch seltsam unkoordiniert. Die ersten Songs fielen dabei eher ruhig aus, während die letzten drei der insgesamt neun Lieder des Sets deutlich punkrockiger ausfielen - und mir prompt auch deutlich besser gefielen. Mein Freund, dem der Auftritt grundsätzlich besser gefiel, erklärte mich angesichts dieser Meinung zum "Punkmädchen" (und das einen Tag vor meinem 52. Geburtstag...)ö.
Gesagt wurde recht wenig, allerdings fragte McGovern irgendwann in die Runde, wer denn Nick Cave bereits live gesehen habe - viele meldeten sich - und wer nicht - wenige meldeten sich. Diesen gab er mit "Prepare to have your minds blown!" Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass das Publikumsinteresse während des Auftritts größer wurde. Vielleicht waren außer mir ja noch mehr Punks im Publikum.
Setliste:
Als wir uns Tickets für Prag kauften, war Nick Caves aktuelles Album "Wild God" noch gar nicht erschienen. Seit Anfang September kann man es nun hören - es ist das erste Album seit 2016 bei dem die Bad Seeds (die allerdings schon länger kein Gründungsmitglied mehr aufweisen können) mitgewirkt haben. Bei der Kritik wurde das Album sehr gut aufgenommen, mein eigener Haushalt ist da, zumindest nach aktuellem Stand, etwas kritischer - ich fand die Platte beim Anhören durchaus schön, aber habe unter den Songs keine echten Favoriten gefunden. Mein Freund empfindet die Produktion durch David Fridman als störend.
Auf der mittlerweile enthüllten Bühne und anhand der Anzahl der Instrumente und Mikrophone konnte man bereits erkennen, dass mit viel Personal gerechnet wurde - wie bereits in Paris war wieder eine Gospelgruppe dabei, dieses Mal sogar mit vier Mitgliedern. Die Bad Seeds umfassen neben Cave und Warren Ellis aktuell vier weitere Mitglieder, der Bassist Martyn Casey wird bei der aktuellen Welttournee krankheitsbedingt durch Colin Greenwood von Radiohead ersetzt. Als Tourmusiker hat man außerdem Larry Mullins (Drums und vieles andere) sowie Carly Paradis (Keyboard) dabei.
Viel Personal also auf der Bühne, aber von Beginn an bekam man den Eindruck, dass hier alle mehr als genug zu tun hatten - Instrumente wurden enthusiastisch benutzt und gewechselt, mitgesungen und insgesamt offenkundig hart gearbeitet. Cave selbst verhielt sich so, wie wir es bereits bei vergangenen Auftritten erlebt haben: Er suchte den intensiven Kontakt zum Publikum, lehnte sich direkt hinein und ließ auch mal das Mikrophon von Zuschauern halten. Viele wollten ihn berühren, und er schaffte es auch, nebenbei angereichte Artikel zu signieren.
Das Set begann mit gleich drei neuen Songs hintereinander (übrigens auch den ersten drei des Albums), das darauf folgende "O Children" von 2010 kündigte Cave an, indem er sagte, er habe den Song verfasst, als er in einer sehr pessimistischen Stimmung gewesen sei und seine Kinder auf dem Spielplatz beaufsichtigt habe - wir sollten mal versuchen, mitzusingen, denn "it stirs the soul".
"Jubilee Street" und "From Her To Eternity" wurden ebenfalls angekündigt, vor dem erstgenannten Song sollte das Publikum den Namen der Hauptfigur erraten (viele riefen "Bee"), vor dem ganze 40 Jahre alten "From Her To Eternity" erriet das Publikum die erste Zeile "I want to tell you about a girl". Vor "Tupelo" erfuhren wir - wie nach meiner Erinnerung bei fast jedem Nick Cave-Konzert - dass es sich um ein Lied über den von Cave sehr verehrten Elvis Presley handelt.
Zwischendurch fragte Cave ins Publikum, was eigentlich "Danke" auf Tschechisch bedeute. Die Antwort "Děkuji" fand er dann sehr lustig und bedankte sich gleich auf Tschechisch. Offenbar wird "Děkuji" auch abgekürzt verwendet und klingt dann in etwa wie "Dick", was Cave noch mehr amüsierte. Er fragte jemand im Publikum, ob dieser ihn "Dick" genannt habe, dann bedankte er sich bei Warren Ellis, indem er ihn ebenso titulierte.
Ellis verbrachte den Großteil des Auftritts vorne rechts, saß entweder musizierend und sich mitwiegend auf einem Stuhl oder stand auch gerne auf diesem - und das so riskant, dass man sich mehrfach Sorgen machen musste, ob er nicht in seinem Enthusiasmus umkippen würde. Viel Begeisterung zeigte auch der Radiohead-Musiker Colin Greenwood, der es offensichtlich nicht bereut, sich der Tour angeschlossen zu haben.
Bei "Joy" - ebenfalls ein Song von "Wild God" wirkte Cave sehr emotional, das setzte sich beim nun folgenden "I Need You" fort, das der Sänger allein am Flügel vortrug - und das auch besonders viel Applaus bekam.
In der Setliste hatten auch zwei Lieder von "Carnage" Platz gefunden, dem Album, das Cave 2021 gemeinsam mit Warren Ellis veröffentlicht hat. Auf den Titeltrack folgte "Final Rescue Attempt" (wiederum von der neuen Platte) nach dem Cave stolz verkündete, wir hätten gerade einem komplexen Tonartwechsel beigewohnt.
Nun wurde es Zeit für zwei alte Favoriten, "Red Right Hand" dürfte insbesondere die Frau im Publikum vor uns erfreut haben, die die ganze Zeit bereits einen roten Abendhandschuh getragen hatte. Cave signierte während des Songs direkt vor uns eine Platte und ermahnte den Eigentümer, diese nun nicht auf eBay zu stellen. Eines meiner eigenen alten Lieblingslieder ist "The Mercy Seat", für das Cave, der die ganze Zeit trotz sicherlich großer Hitze seine Krawatte anbehalten hatte, diese dann ablegte und sein Hemd aufknöpfte.
Letzter Song des Hauptteils war "White Elephant" (ebenfalls von "Carnage"). Gegen Ende des sehr opulenten und auch gospelhaften Liedes ("a time is coming for the kingdom in the sky") kamen die Gospelsänger, die die ganze Zeit ganz hinten auf der Bühne gestanden hatten, nach vorne zu Cave und fassten ihn schließlich für das gemeinsame Finale von beiden Seiten an den Händen.
Wir hatten uns aber natürlich auch Zugaben verdient. Als kleine Änderung in der ansonsten recht festgelegten Setliste der Tour spielte Cave als ersten (statt zweiten) Song dieses Teils "O Wow O Wow (How Wonderful She Is)" - ein Lied für das Bad Seeds-Urmitglied Anita Lane, Caves ehemalige Partnerin, die 2021 gestorben ist. In dem Song ist auch ihre Stimme zu hören. Während die große Videoleinwand bis hierhin nur Songtitel und auch Textzeilen im Stil des "Wild God"-Cover-Schriftzuges ein- und ausgeblendet hatte, zeigte sie nun verschiedene Filmaufnahmen, die in Lanes Jugend entstanden sein müssen.
Zusätzlich hörten wir "Papa Won't Leave You, Henry" (das dankenswerterweise ein bei früheren Stationen gespieltes Lied der anderen Nick Cave-Band Grinderman ersetzte) und den natürlich unverzichtbaren "The Weeping Song".
Die Band verließ nun wiederum die Bühne, für die allerletzte Zugabe kehrte Cave nochmals allein zurück und verabschiedete uns mit der Ballade "Into Your Arms", zu der er sich selbst am Flügel begleitete.
Zweieinhalb Stunden waren seit Beginn des Auftritts vergangen, nun war die Messe gelesen - im Anschluss wurden wir rasch aus der Halle und Richtung U-Bahn geleitet, was wiederum - insbesondere für eine Veranstaltung dieser Größe - völlig unkompliziert funktionierte. Ein weiteres Mal hatte sich gezeigt, dass Nick Cave in Punkto Bühnenpräsenz nur wenige das Wasser reichen können. Bei manchen alten Liedern fällt mittlerweile auf, dass sie nicht so recht zum sonstigen Programm passen - aber das sorgt ja auch für willkommene Abwechslung.
Setliste:
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