Wir verließen das Set von London Grammar verfrüht, um vor der vergleichsweise winzigen zweitgrößten Bühne noch erträglich gute Stehplätze für Kraftwerk zu erhalten. Unterwegs kamen wir an einem 3D-Brillen-Verteilpunkt vorbei, und auch um uns herum hatten beinahe alle die Brillen bekommen und trugen sie. Die Wartezeit überbrückten einige um uns herum wartende Franzosen mit Erinnerungen an im Deutsch-Unterricht gelernte Sätze: "Du bist ein sehr schones Madchen" und die Zahlen von 1 bis 8, letztere würden gleich immerhin beim entsprechenden Kraftwerk-Song nützlich sein.
Den Rest des Berichts könnte ich weitgehend von dem kopieren, den ich vor sechs Jahren (hier) zum Kraftwerk-Auftritt bei einem Stockholmer Festival geschrieben hatte: Kraftwerk sind bei ihren Livesets nicht gerade improvisations-affin, kürzten es aber aufgrund des vorgegebenen Zeitrahmens deutlich zusammen.
Das 70-Minuten-Set hielt sich nicht mit Füllern auf und konzentrierte sich ganz und gar auf Kraftwerk-Hits wie "Computer Love", "The Model" und Konsorten, die größtenteils in den englischen Versionen vorgetragen wurden. Teilweise wurden gekürzte Fassungen der Lieder dargeboten, was bei Kraftwerk und "Autobahn" immer noch rund 7 Minuten bedeutet.
Wie in Stockholm auch gesehen, enthält die Visualisierung zum Lied "Spacelab" einen individualisierten Teil - man sieht ein UFO fliegen, das dann gegen Endes des Songs in diesem Fall erst in Paris und dann sogar direkt vor der Rock en Seine-Bühne landete.
Um uns herum war die Show aber wohl doch vielen komplett neu, denn die ersten 3D-Effekte auf der LED-Leinwand (an viele davon erinnerte ich mich auch von der erst im März besuchten Ausstellung in Düsseldorf) wurden mit "Aaah" und "Oooh" begrüßt. Im Publikum befanden sich dabei auch erstaunlich viele begeisterte jüngere Leute.
Sonst gibt es dann auch wirklich nichts Neues zum Thema Kraftwerk Liveperformance zu sagen - außer vielleicht, dass mein Freund beobachtete, dass Ralf Hütter (mittlerweile stolze 76 Jahre alt) die Keucher bei "Tour de France" offenbar live produzierte.
Später, bei "The Robots", fehlten übrigens die normalerweise bei diesem Song eingesetzten Robotermodelle, die Band blieb stattdessen selbst auf der Bühne, da es auch keinen Abgrenzung zwischen Haup- und Zugabenteil gab. Das konnten wir aber nur später im Netz lesen, denn wir hatten es mal wieder eilig: Auch für Nick Cave mussten wir uns zumindest passable Plätze sichern gehen.
Mit meinem Freund hatte ich vorher vereinbart, dass ich ihn zu einem bestimmten Zeitpunkt zur anderen Bühne zerren durfte - mit dem Hinweis, dass er seinen Wunsch-Headliner Kraftwerk ohnehin zwei Tage später nochmals in Bonn sehen würde.
Setliste:
Spacelab
The Man-Machine
Autobahn
Computer Love
The Model
Radioactivity
Tour de France / Tour de France Étape 2
Trans-Europe Express / Metal on Metal / Abzug
The Robots
Boing Boom Tschak
Music Non Stop
Vorher hatte ich nicht den Eindruck gehabt, dass man von der einen Hauptbühne bis zur anderen hören konnte, doch als wir uns bereits dicht an dicht gequetscht im Golden Circle befanden und schon auf Nick Cave warteten, hörte man noch deutlich "Boing Boom Tschak" und "Music Non Stop" herüber schallen. Letzteres war durchaus wörtlich zu nehmen, denn Kraftwerk überzogen ihren Slot etwas, so dass wir diese Klänge noch hörten, als Herr Cave eigentlich bereits auf der Bühne hätte stehen sollen.
Um einige Minuten verspätet begann er also sein Set - zunächst wortlos rockte er direkt mit "Get ready for love" los. Der Sänger trug wie immer Anzug, bei den Bad Seeds gab es insofern eine Neuerung, als Cave gleich zweimal einen weiblichen Neuzugang am Keyboard begrüßte und vorstellte: Carly Paradis.
Neben Nick und den Bad Seeds befanden sich auf der reichlich vollen Bühne auch noch drei Gospelsänger (zwei Frauen und ein Mann) in den typischen Gewändern, Warren Ellis hatte einen eigenen Platz im Schatten des Klaviers bekommen, an dem er diverse Instrumente - häufig Geige - spielte und ansonsten eifrig mitrockte.
Im Publikum befanden sich offenbar einige Stammgäste - tagsüber hatten wir viele "Bad Seed" T-Shirts bemerkt, nun sah man an einigen hochgehaltenen Schildern ("Just Breathe", "You are my Aeschylus"), dass viele sich speziell auf den Hauptact gefreut hatten.
Cave hatte seinerseits das Publikum gut im Blick: Er kommunizierte das eine oder andere Mal und beschimpfte nach einem Bad in der Menge auch einen Fan, ohne dass für uns klar geworden wäre, was genau das Problem war. Ansonsten stellte er sich, wie wir es auch vor fünf Jahren in Frankfurt erlebt hatten, immer wieder auf Podeste direkt an der Absperrung zum Publikum, ließ sich berühren und teils auch Geschenke übergeben - die dann meist in den Anzugtaschen verschwanden.
Vor "O Children" warf er einen suchenden Blick in den Vorbühnenbereich und sagte, er habe dort doch eben ein Kind gesehen - das Mädchen wurde dann auch bestätigend nochmals in die Höhe gehalten. Cave fragte nach ihrem Namen (Annabelle) und widmete ihr das nun folgende Lied.
"I Need You" bot der Sänger weitgehend allein am Piano dar, der Song endet in der Wiederholung der bereits auf dem Schild gelesenen Worte "Just breathe" - der Gedanke, dass der Song aktuell vor allem Caves Gefühle zum Tod seines zweiten Sohnes innerhalb von sieben Jahren ausdrückt, drängte sich wegen der sichtbaren Emotionalität auf - zumal sich die Worte "Just breathe" dann auch in andere Songs einschlichen.
Davon abgesehen war das präsentierte Set eher am rockigen Ende von Caves Musikspektrum angesiedelt - ausgerechnet "The Mercy Seat" spielte er allerdings in einer entschleunigten Version, die mir aber auch gut gefiel (so langsam wie die von Johnny Cash war sie dann auch nicht).
Vom 2019 veröffentlichten letzten Album "Ghosteen" wurden nur zwei Lieder gespielt, eines vom nur mit Warren Ellis aufgenommenen, letztjährigen Album "Carnage". Dieses schloss auch den offiziellen Teil des Sets ab.
Cave kehrte für "Into My Arms", das vielfach mitgesungen wurde, zurück, dann erkundigte er sich bei jemand hinter der Bühne, ob er noch einen oder zwei Songs spielen dürfe. Die Verspätung seitens Kraftwerk rächte sich, der Verantwortliche zeigte mit seinen Fingern energisch "1". So hörten wir zum Abschied dann nur noch das mir vorab unbekannte Single B-Seite "Vortex"; "Ghosteen Speaks", welches das Set sonst in der Regel abschließt, blieb ungespielt.
Ähnlich wie beim Hear Hear!-Festival zwei Wochen zuvor beendete der Auftritt des Headliners das komplette Event, so dass nun die Massen nach draußen strömten. Wir wählten eher zufällig einen Menschenstrom, der uns genau zur richtigen U-Bahn-Station führte, und wir konnten mit einem nicht allzu überfüllten Zug zurück zum Hotel fahren - nie zuvor lag ich nach einem Konzert- oder gar Festivalbesuch so schnell im Bett! Dafür kann der Veranstalter natürlich nichts, aber insgesamt machte das Rock en Seine auf uns einen ausgesprochen gut organisierten Eindruck.
Setliste:
There She Goes, My Beautiful World
From Her to Eternity
O Children
Jubilee Street
Bright Horses
I Need You
Waiting for You
Tupelo
Red Right Hand
The Mercy Seat
The Ship Song
Higgs Boson Blues
City of Refuge
White Elephant (Nick Cave & Warren Ellis song)
Into My Arms
Vortex
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